Heim am Waldrand

1969 kam die Sophienpflege nach Pfrondorf

27.07.2016

Am 26. Juli 1969 zogen die Heimkinder der Tübinger Sophienpflege in den Neubau nach Pfrondorf. Dieses Luftbild aus dem vergangenen Jahr zeigt, das der Architekt Eugen Riehle die Wohngruppen in der hinteren Baureihe sternförmig angeordnet hat. Archivbild: Grohe

Am 26. Juli 1969 zogen die Heimkinder der Tübinger Sophienpflege in den Neubau nach Pfrondorf. Dieses Luftbild aus dem vergangenen Jahr zeigt, das der Architekt Eugen Riehle die Wohngruppen in der hinteren Baureihe sternförmig angeordnet hat. Archivbild: Grohe

Grußworte. Kinderchor. Häppchen und Hefezopf. Ein ausführlicher Rundgang durch die parkähnliche Anlage am Waldrand. Es war noch nicht alles fertig – aber am 26. Juli 1969 zogen die 75 Heimkinder der Tübinger Sophienpflege und ein Teil der Mitarbeiter in ihr neues Reich in Pfrondorf. Über zehn Jahre hatte es gedauert, bis aus den ersten Plänen, die „Rettungsanstalt“ im ehemaligen Lustnauer Klosterhof zu verlassen, ein neues, modernes Kinderheim wurde.

Die Sophienpflege ist die älteste diakonische Einrichtung im Landkreis Tübingen. 1825 gründete Professor von Schrader einen Verein zur Einrichtung einer Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder, 1840 konnte die nach der Tochter von Königin Katharina benannte Sophienpflege 40 Kinder aufnehmen. Sie bekamen zu essen und einen Schlafplatz, wurden zu Fleiß, Bescheidenheit und christlicher Frömmigkeit erzogen, gingen zur Schule und arbeiteten in der Land- oder Hauswirtschaft. Mit der Konfirmation wurden sie entlassen.

Im 20. Jahrhundert übernahm der Staat die Kosten für die Heimkinder, die Sophienpflege war nicht mehr auf Spenden angewiesen. Krieg und Wirtschaftskrisen sorgten aber dafür, dass man froh über die anstaltseigene Landwirtschaft war, in der die Kinder mitarbeiten mussten. Nach dem Krieg beherbergte die Sophienpflege über 100 Zöglinge, darunter zum ersten Mal viele „echte“ Waisen – der Klosterhof und die Hauseltern waren mit dieser Situation komplett überfordert. Erst ab 1959 stand statt Stallarbeit und Wäscherei „Spiel und Sport“ auf dem Stundenplan. Gleichzeitig suchte man nach einer Lösung des Platzproblems: Der Klosterhof war viel zu eng, die B27 daneben durch den zunehmenden Verkehr laut und gefährlich.

In Pfrondorf, westlich der Schweizer Straße, wurde man fündig. Heimleiter Rudolf Leski stellte ein Raumprogramm zusammen: In mehreren kleinen Pavillons sollte es Platz für Gruppen geben, in denen höchstens zwölf Kinder betreut werden sollten. Spiel-, Sport- und Schulräume waren ebenso vorgesehen wie angemessene Mitarbeiterwohnungen, ein Lehrlingsheim für Buben sowie Kleintier- und Hühnerställe. Der Reutlinger Architekt Eugen Riehle zeichnete erste Entwürfe und 1962 konnten die beiden dem Verwaltungsrat der Sophienpflege ihr neues Raumkonzept vorstellen, das für die Zeit bahnbrechend modern war.

Leider dauerte es mehrere Jahre, bis die Finanzierung des Neubaus geklärt war. Man passte die ehrgeizigen Pläne immer wieder an die finanziellen Realitäten an, reduzierte die Gebäudeanzahl, erhöhte die Zahl der Kinder pro Wohneinheit auf 15 und verzichtete auf viele schöne nice-to-haves. Am 23. September 1966 fasste der Verwaltungsrat endlich den Beschluss zum Baubeginn – die Finanzierung stand zwar immer noch nicht fest, aber wenn man jetzt nicht losgelegt hätte, wären bereits zugesagte Zuschüsse wieder verloren gegangen. 1968 standen drei Gruppenhaus-Wohnkomplexe, die Mitarbeiterwohnungen und die Sonderschule im Rohbau. Immerhin.

Jetzt hätte alles gut sein können. Neue, großzügige Räumlichkeiten, schönste Waldrandlage, moderne Ausstattung. 1970 wurde der Sophienpflege für eine „moderne, auf die Individualität des einzelnen Kindes und seine spezielle Förderung abgestellte Heimerziehung“ Modellcharakter zugesprochen und der Vorsitzende des Verwaltungsrats erhielt das Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Aber: um wirtschaftlich zu bleiben, musste die Sophienpflege zu den 75 Kindern, die sie bereits betreute, noch 60 weitere aufnehmen, die zum großen Teil „aufgrund besonderer Schwierigkeiten aus anderen Heimen abgewiesen“ worden waren. Dazu geriet die Heimerziehung als solche in eine systemimmanente Krise: Die großen, hierarchisch geführten Kindergruppen am Stadtrand – und damit am „Rand der Gesellschaft“ - galten als nicht mehr zeitgemäß, da konnten noch so viele Tischtennisplatten aufgestellt und die Möbel in den Gruppenräumen noch so hübsch sein.

1971 gründete der Heimleiter Rudolf Leski die erste Wohngruppe für schulentlassene Jungen in der Nägelestraße und in Deutschland überhaupt. In den folgenden Jahren schossen die sogenannten AWGs, die Außenwohngruppen, wie Pilze aus dem Boden und die für viel Geld nach modernsten Standards gerade frisch gebaute Sophienpflege in Pfrondorf verwaiste zusehends. 1974 wurde dort deshalb das Evangelische Institut für sozialpädagogische Ausbildung und Fortbildung eingerichtet, das 1982 um ein Seminar für Heilpädagogik erweitert wurde. Andrea Bachmann

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27.07.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 27.07.2016, 01:00 Uhr

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