Edle und ekelhafte Kuriositäten

Auf Schloss Hohentübingen sind Moulagen ausgestellt

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lernten Studenten anhand von Wachsmodellen, sogenannten Moulagen, Krankheitsbilder zu diagnostizieren. Die schaurig-schönen Schaustücke sind noch bis zum 11. September 2016 auf Schloss Hohentübingen zu sehen. Die Ausstellung ist das sichtbare und sehenswerte Resultat eines zweisemestrigen interdisziplinären Praxisseminars am Museum der Universität Tübingen.

24.08.2016

Auf Schloss Hohentübingen sind Moulagen ausgestellt

Tübingen. Die Objekte in den Vitrinen sind edel und ekelhaft. Geschwüre, Pustel, Pocken und eitrige, blutige, geschwollene Haut. Aus Wachs. Es sieht alles sehr echt aus, ist es aber nicht. Es ist Kunst. Handwerk. Ein Kuriositätenkabinett der medizinischen Ausbildung und Aufklärung.

Anke Strölin und Peter Moos führen durch die Ausstellung. Die Dermatologin ist Lehrbeauftragte an der Hautklinik und war die medizinische Beraterin der Ausstellungsmacher, Peter Moos hat gemeinsam mit Edgar Bierende das interdisziplinäre Praxisseminar geleitet.

Die Tübinger Hautklinik und die Tropenklinik besitzen gemeinsam 275 Moulagen, aus beiden Sammlungen wurden 33 besonders aussagekräftige Objekte für die Ausstellung ausgewählt. Sie liegen jetzt in schön ausgeleuchteten Vitrinen und beeindrucken nicht nur durch die handwerkliche Kunstfertigkeit, mit der sie hergestellt wurden, sondern auch durch ihre besondere Individualität. Den in Wachs gegossenen Gesichtern sind Leid und Schmerz anzusehen.

Moulagen sind eine Mischung aus Handwerk, Kunst und Wissenschaft. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellte der Tübinger Wachsbossierer und Buchhändler Wilhelm F. Haselmayer wunderschöne Wachsreliefs her, die u.a. schwangere Frauen zeigten und dem Leiter der Tübinger Universitätsklinik Johann H.F. Autenrieth als anatomische Modelle dienten.

Vor etwa 100 Jahren erlebte die Moulage eine Art Blütezeit. Mouleure und vor allem Mouleurinnen in Breslau, Dresden, Wien, Paris und Tübingen fertigten Wachsmodelle unterschiedlichster Qualität an – vom hochartifiziellen Unikat bis zur Massenware, die auf Jahrmärkten ausgestellt wurde und eine Mischung aus Gruselkabinett, medizinischer Aufklärung und moralischer Anstalt war. „Die Syphilis war zum Beispiel eine häufige Erkrankung und wurde in all ihren Stadien immer wieder dargestellt“, erklärt Anke Strölin.

In einer kleinen Nische des Ausstellungsraum haben die Studierenden eine Werkstatt aufgebaut: Von den Patienten, die den Mouleuren als Modelle dienten, wurde ein Gipsabdruck genommen, der dann Schicht um Schicht mit einer besonderen Wachsmischung gefüllt wurde. Die Rezepte für die Mischungen waren das bestgehütete Geheimnis der Mouleure, kam es doch vor allem darauf an, die spezifische Struktur der Haut des Patienten so naturalistisch wie möglich wiederzugeben. Zwischen die Schichten wurden Venen, Hämatome und Pigmentveränderungen gemalt oder Haare eingeklebt. Geschwüre und andere größere Gewebeveränderungen wurden teilweise nachträglich modelliert.

Ein Lehrberuf war das Anfertigen von Moulagen nicht. Die meisten Mouleure waren Frauen, die oft als Pflegerinnen oder Laborantinnen Kontakt zur Klinik hatten. In Tübingen hat eine Martha Schiler, die „Gehilfin an der Klinik“ war, eine ganze Reihe qualitätvoller Moulagen angefertigt.

Mit dem Aufkommen immer besserer Fotografien gerieten die Moulagen zunächst in Vergessenheit. Seit 20 Jahren schenkt man ihnen wieder mehr Aufmerksamkeit und verwendet sie sogar teilweise noch zu Prüfungs- und Unterrichtszwecken. Mittlerweile steht jedoch ihre kulturhistorische Bedeutung im Vordergrund.

Im Rahmen des Praxisseminars wurden die Sammlungen aus der Hautklinik und der Tropenklinik inventarisiert, neu geordnet und teilweise restauriert. Dabei hat Anke Strölin mit ihren Assistent(inn)en die Diagnosen überprüft, die auf den Objekten vermerkt sind und den Studierenden erklärt, um welche Krankheiten es sich handelt.

„Die meisten Diagnosen haben gestimmt“, berichtet Anke Strölin. „Aber manche Moulagen haben so gelitten, dass es gar nicht mehr möglich war, eine Diagnose zu stellen.“

Die Ausstellung befasst sich auch mit der Kulturgeschichte des Wachsmodells. „Auch Goethe hat etwas über Moulagen gesagt, das ist immer eine gute Referenz dafür, dass etwas von Bedeutung ist“, witzelt Peter Moos. Außerdem gibt sie einen guten Einblick in die Geschichte der Medizin in Tübingen, insbesondere der Haut- und der Tropenklinik.

32 Studentinnen haben zwei Semester lang geforscht und gelesen, inventarisiert und katalogisiert, einen (sehr lesenswerten) Ausstellungskatalog gestaltet und schließlich die Ausstellung aufgebaut. Forschung und Lehre werden auf diese Weise einer breiteren Öffentlichkeit in einer Form zugänglich gemacht, die mindestens so attraktiv ist wie die Gruselkabinette des späten 19. Jahrhunderts. Andrea Bachmann

Krankheit als Kunst(form)

Moulagen der Medizin

Bis 11. September 2016

Kabinettraum im Schloss

Hohentübingen

Öffnungszeiten

Von Mittwoch bis Sonntag

zwischen 10 und 17 Uhr

Donnerstags bis 19 Uhr

Am Donnerstag, 25. August, gibt es um 17 Uhr eine Führung

www.unimuseum.uni-

tuebingen.de

Anke Strölin und Peter Moos führen durch die Ausstellung.

Anke Strölin und Peter Moos führen durch die Ausstellung.

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Erstellt:
24.08.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 24.08.2016, 01:00 Uhr

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