Scham und Schuld

Binge Eating ist die häufigste Ess-Störung in Deutschland

Sophia Press und Kerstin Krohmer arbeiten am Tübinger Psychologischen Institut an einer Studie zur Binge-Eating-Störung.

29.11.2017

Von Angelika Brieschke

Binge Eating ist die häufigste Ess-Störung in Deutschland

TAGBLATT ANZEIGER: Was ist eine Binge-Eating-Störung?

Sophia Press: Der deutsche Begriff ist „Essanfallstörung“. „Binge Eating“ ist vielleicht ein schwieriger Name dafür, weil wenige das englische Wort „Binge“ kennen. Wahrscheinlich trägt das dazu bei, dass die Störung wenig bekannt ist, viel weniger als Bulimie zum Beispiel oder Magersucht. Dabei leiden an Magersucht nur 0,5 bis 1 Prozent der Deutschen, bei Binge Eating geht man davon aus, dass es 2 bis 6 Prozent sind, vielleicht sogar fast 10 Prozent. Die Dunkelziffer ist da sehr hoch. Binge Eating ist die häufigste Essstörung in Deutschland – und zugleich die unbekannteste.

Kerstin Krohmer: Die Betroffenen leiden unter regelmäßig wiederkehrenden Essanfällen. Es sind dabei aber nicht so Essanfälle gemeint, die jeder kennt, wenn man mal denkt: ‚Also, die Schokolade hätte ich jetzt nicht unbedingt essen müssen‘. Bei Binge Eating geht es um eine Nahrungsaufnahme, die objektiv sehr groß ist: innerhalb kürzester Zeit, ohne Genuss und Hunger und so lange, bis man sich unwohl fühlt. Manche Betroffene nehmen da auf einmal bis zu 10 000 Kalorien zu sich, und das mehrmals die Woche. Die Essanfälle bei Binge-Eating-Patienten sind immer mit großen Scham- und Schuldgefühlen verbunden.

Press: Die Betroffenen leiden sehr stark darunter, dass sie immer wieder die Kontrolle über ihr Essverhalten verlieren. Sie schämen sich dafür und sie verheimlichen es. Die Essanfälle sind oft abends oder nachts, wenn sie sich einsam fühlen. In Gesellschaft essen die Betroffenen sehr kontrolliert, zeigen nach außen also ein normales Essverhalten. In der Regel wissen ihre Freunde gar nichts von ihrer Krankheit. Und auch sie selbst wissen oft nicht, dass es sich bei ihren unkontrollierten Essanfällen um eine krankhafte Störung handelt.

Bei Bulimie essen die Betroffenen ja auch viel zu viel. Was ist der Unterschied?

Krohmer: Binge-Eating-Patienten ergreifen keine Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, exzessiver Sport, starkes Diätverhalten oder Abführmittel. Deswegen sind die Betroffenen irgendwann stark übergewichtig. Sie empfinden starken Ekel und starke Wut gegenüber ihrem Körper. Das wiederum ist ein Auslöser für weitere Essanfälle, weil die Betroffenen keine Strategien haben, wie sie mit ihrem Übergewicht umgehen sollen.

Press: Es ist wie ein Teufelskreis. Die meisten Betroffenen haben schon viele Diätversuche unternommen, ohne Erfolg, und denken jetzt ‚Ist eh alles zu spät‘.

Krohmer: Ein weiterer Unterschied zu anderen Essstörungen ist, dass die Betroffenen im Schnitt älter sind, die Schwierigkeiten treten häufig erst im Erwachsenenalter auf.

Sind es vor allem Frauen, die darunter leiden?

Press: Nein. Das ist viel ausgeglichener als bei den anderen Ess-Störungen. Da sind es ja meist Frauen oder Mädchen. Bei Binge Eating sind es 60 Prozent Frauen, 40 Prozent Männer.

In unserer Studie arbeiten wir allerdings nur mit Frauen.

Warum?

Press: Wir bieten ein kostenloses Training zur Verbesserung der Körperzufriedenheit an. Was den Körper angeht, haben Männer ganz andere Ziele als Frauen. Häufig steht nicht nur das Schlankerwerden im Vordergrund, sondern Männer möchten auch mehr Muskeln haben. Wir untersuchen daher in unserer Studie zunächst einmal Frauen, um eine einheitlichere Gruppe zu haben.

Was machen Sie in Ihrer Studie?

Press: Die Probanden erhalten in vier kostenfreien Sitzungen ein Körperbildtraining. Dabei arbeitet eine Psychologin mit ihnen in Einzelstunden an ihrer Körperakzeptanz. Die Probanden setzen sich zum Beispiel gemeinsam mit der Psychologin mit ihrem eigenen Spiegelbild und den dabei auftretenden Gefühlen auseinander. Die Wirksamkeit des Trainings konnte bereits in früheren Studien gezeigt werden.

Krohmer: In der Studie untersuchen wir die Wirkmechanismen des Trainings. Dazu führen wir vor und nach dem Training Untersuchungen durch, bei denen die Teilnehmerinnen Bilder ihres eigenen und einen fremden Körpers sehen.

Sie wollen erreichen, dass die Betroffenen ihren Körper nicht mehr negativ wahrnehmen? Wieso? Anders als Magersüchtige sind sie doch tatsächlich übergewichtig.

Press: Man weiß aus der Forschung, dass Übergewichtige, die nicht an einer Ess-Störung leiden, bei weitem keine so starke Unzufriedenheit mit ihrem Körper haben wie Betroffene einer Binge-Eating-Störung. Emotionen sind bei Binge-Eating-Patienten häufig Auslöser für neue Essanfälle. Mit dem Körperbildtraining wollen wir den Teufelskreis von Essanfällen und negativen Gefühlen gegenüber dem eigenen Körper durchbrechen.

Inzwischen haben uns auch schon einige Studienteilnehmerinnen berichtet, dass die Essanfälle weniger werden und auch die Nahrungsmenge.

Haben Sie schon Ergebnisse?

Press: Die Studie läuft erst seit zehn Monaten, sie ist auf drei Jahre angelegt, daher haben wir leider noch keine Ergebnisse. Zudem haben wir bisher erst 17 Probanden behandelt, insgesamt sollen es 40 werden. Aber wir haben schon festgestellt, dass die Studienteilnehmerinnen im Durchschnitt von den Sitzungen profitieren. Natürlich profitieren nicht alle, aber doch der Großteil.

Interview: Angelika Brieschke

Die Studie zu Binge Eating am Institut für Psychologie der Uni Tübingen, Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie, wird von Prof. Jennifer Svaldi geleitet.

Es werden noch Teilnehmerinnen für die Studie gesucht.

Zeitaufwand: Vier Sitzungen mit jeweils 1,5 Stunden, sowie Vor- und Nachuntersuchungen.

Kontakt: Sophia Press

Telefon: (0 70 71) 2 97 71 88

E-Mail: sophia-antonia. press@uni-tuebingen.de