Gelebte Leben aus Südtirol

Die Künstlerin Elisabeth Frei stellt in der Galerie Wenke aus

In Lajen in Südtirol leben ungefähr 1100 Menschen auf 1100 Höhe. Die Künstlerin Elisabeth Frei hat seit 20 Jahren ihr Atelier in dem Südtiroler Bergdorf. In den letzten drei Jahren hat sie den alten Dorfbewohnern ein faszinierendes und berührendes Denkmal geschaffen, das bis zum 5. Oktober in der Galerie Wenke ausgestellt ist.

28.09.2016

Die Künstlerin Elisabeth Frei stellt in der Galerie Wenke aus

Tübingen. „Ich habe lange Bilder von alten Bäumen gemalt. Eines Tages habe ich die Hedwig gesehen, wie sie aus dem Stadel herausgekommen ist und gedacht, dass sie auf mich wirkt wie ein alter Baum. So verwurzelt mit dem Boden und auch so knorrig und alt. Das war der Auslöser für das Projekt.“ Elisabeth Frei fotografierte die alte Bäuerin und viele andere alte Menschen aus ihrem Dorf. Von hinten, beim Davongehen.

„Man braucht das Gesicht gar nicht. Man erkennt jemanden an der Haltung viel besser als am Gesicht und von der Rückseite kann man die Bewegung viel besser darstellen. Ich habe ein Porträt von meinem alten Lehrer in Sterzing gemacht, der nie auf dem Feld gearbeitet hat. Sogar das sieht man von hinten besser“, erklärt die Künstlerin. Die Porträts in Tusche und Acryl, die nach diesen Fotos entstanden sind, malt Elisabeth Frei auf alte Schullandkarten, auf Acryldruckplatten oder auf die Seiten eines alten italienischen Lexikons. Sie möchte zeigen, dass die Person eine Vergangenheit hat. „Während des Faschismus mussten alle Italienisch sprechen, Deutsch haben die Kinder höchstens in geheimen Katakombenschulen gelernt. Mit den Lexikonseiten wollte ich diesen Aspekt ihrer Vergangenheit zeigen.“ Die Seiten wählt Frei eher nach ästhetischen als nach inhaltlichen Schwerpunkten aus. Manchmal findet sich eine Seite, die perfekt passt: Für den Poster Toni, den ehemaligen Briefträger, eine Seite mit einem Eintrag über die Post.

Die Porträts entstehen ohne Vorzeichnung, sepiafarbene Schattenflächen aus Tusche. Die Frauen tragen eine rote Tasche oder ein rotes Kopftuch, die Männer die traditionelle blaue Schürze. „Unter der Woche sieht man die Südtiroler Männer alle mit Schurz. Am Sonntag sind sie dann wie verkleidet in ihren feinen Sachen. Den Schurz tragen sie eigentlich nicht mehr so sehr, um ihre Kleidung zu schonen, sondern um zu zeigen, dass sie arbeiten – auch wenn sie schon längst pensioniert sind und ihre Arbeit nur noch darin besteht, auf ein Glaserl Wein ins Gasthaus zu gehen.“ Nach dem Jörgele Tondl könne man in dieser Hinsicht die Uhr stellen: Um acht kommt er ins Gasthaus auf einen Kaffee, am Vormittag auf ein Glaserl Weißwein, am Nachmittag auf ein Glaserl Roten.

So entsteht ein ganzes Dorfporträt, eine Südtiroler Comédie Humaine aus Rückenansichten. Jedes Bild erzählt eine Geschichte, wird zur Biographie einer Persönlichkeit. Elisabeth Frei kennt sie alle: Die Unterhauser Rosl, die Brunner Moidel, den Gasteiger Toni und viele andere. Statt mit dem Familiennamen spricht man die Leute mit dem Hofnamen an, von dem sie stammen. Es ist wichtig, woher jemand kommt. Die Peidschusterin zum Beispiel, die auf dem Bild von Elisabeth Frei in einem eleganten Mantel und nahezu königlicher Haltung vom Sonntagsgottesdienst kommt und den Kirchenzettel noch in der Hand hält, stammt vom Moarhof, dem einst mächtigsten Hof in Lajen, und erzählt jedem gleich, dass sie eine „Moartochter“ ist. Für das Porträt von ihr hat Elisabeth Frei eine Aluminiumdruckplatte verwendet.

Die Platten sind Recyclingprodukte. Stundenlang suche sie in der Druckerei nach interessanten Platten, die sie dann an den Werkstattwänden aufstelle um zu überlegen, welche Person auf welche Platte passt. Kalenderblätter, Werbebroschüren, Schulbücher oder die Platte vom eigenen Katalog – immer zeigen die Platten, dass die Person eine Vergangenheit hat. Es entstehen Räume um die Person herum – eine alte Bauersfrau hält sich an den Spitzen der Dolomiten fest, eine andere verliert sich im Blau einer Werbung für eine Grappabrennerei. Die Betrachterin wird in das Bild hineingezogen, sie kann mit der Person mitgehen, ihr nachfolgen. Das Alter wird zu einem Aufbruch in neue Dimensionen, was tröstlich und hoffnungsvoll ist.

Eine wichtige Rolle spielt dabei der Schatten: Er schafft die Verbindung zwischen der Person und der Platte und hält sie am Boden. Wie die Wurzel eines Baumes. Es ist der Schatten, den die Person im Leben geworfen hat: „Eine ältere Person ist etwas Schönes“, sagt die Künstlerin. „Du siehst die Zeit. Das ganze Leben. Eigentlich alles.“ Andrea Bachmann

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Erstellt:
28.09.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 28.09.2016, 01:00 Uhr

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