Der Kommentar

Die Seele tickt nicht digital

29.11.2017

Von Andrea Bachmann

Meine Bibliothek ist die Hälfte meiner Seele.“ Den Satz lese ich im Reuchlin-Museum in Pforzheim. Johannes Reuchlin lebte von 1455 bis 1522 und war einer der ganz großen Intellektuellen der frühen Neuzeit. Wer ihn besser kennen lernen möchte – was eine lohnende Sache ist - kann sich im Stadtmuseum Tübingen eine hervorragende Ausstellung über diesen „Vater neuer Zeit“ ansehen. Reuchlins Bibliothek war eine praktische Kombination aus Schrank und Lesepult, man konnte sie mitnehmen, wenn man auf Reisen ging. So viele Bücher passten da nicht hinein. Zu seinen Lebzeiten steckte der Buchdruck noch in den Kinderschuhen und ein Buch war fast so wertvoll wie ein Haus.

Meine Bibliothek nimmt zwei Wände meiner Wohnung ein. Ich liebe jeden einzelnen Meter. Auf Reisen mitnehmen kann ich sie allerdings nicht mehr. Dafür habe ich ein elektronisches Lesegerät, in das mehr Bücher passen als Reuchlin sich hätte vorstellen können und das weniger wiegt als zwei Tafeln Schokolade. Auf einem Urlaubsfoto sitze ich in einem Bauernhaus in den türkischen Bergen auf einem Bett, eingemummelt in mehrere sehr großgeblümte Steppdecken – es war eiskalt und durch die Ritzen im Fußboden konnten wir den Hühnern im Hof bei der Zubereitung unseres Frühstückseis zusehen – und lese. Der Bildschirm des Geräts beleuchtet mein Gesicht. Spitzwegs armer Poet im 21. Jahrhundert.

Aber nie wird dieses Elektrospielzeug meine Bibliothek ersetzen können. Diese kostbare Tapete, die voll ist mit Erinnerungen und Stimmungen. Den Titel des Buches, das ich in den türkischen Bergen gelesen habe, habe ich hingegen längst vergessen. Und deshalb widerstehe ich allen minimalistischen Moden, die mir einflüstern wollen, ich solle mich von meinen Bücherwänden befreien. Die Hälfte meiner Seele sperre ich nicht in ein elektronisches Gefängnis und ich schmeiße sie nicht ins Altpapier. Reuchlin würde das verstehen.