Krabat in Tübingen

Ein bemerkenswerter Leichenzug im Jahr 1691

28.09.2016

Ein bemerkenswerter Leichenzug im Jahr 1691

Dumpfe Trommelschläge hallen zwischen Häuserwänden. Die Menschen auf der Straße sind alle schwarz gekleidet. Das Tor des Collegium illustre öffnet sich. Zwölf Männer der kurfürstlichen Leibgarde führen den Zug an. Dann kommen die Lehrer der Schola anatolica und etwa 70 Schüler, in schwarzen Mänteln, einen langen Trauerflor am Ärmel. Junge, etwas verlegene Gesichter. Die Ratsverwandten, die Mitglieder des Gerichts, der Bürgermeister. Sein Stellvertreter. Der Kämmerer. Der Verwalter des Collegiums neben dem Ephorus vom Evangelischen Stift. Alle in vollem Trauer-Habit. Ernste Blicke. Wichtige Mienen. Professoren. Pfarrer. Studenten. Vor ihnen her tragen zwei Pedellen das Szepter der Universität. Es müssen fast Tausend Menschen sein, die sich in den langen Zug einreihen, dessen Spitze mittlerweile fast das Lustnauer Tor erreicht hat. Die Trommelschläge nehmen kein Ende. Der Universität folgt das Collegium. Die württembergischen Hofcavaliere, die Hofmeister, Stallmeister, Studiosi adeligen Standes. Leichenführer begleiten die einzelnen Gruppen. Dann endlich der Leichenwagen, von acht Pferden gezogen und begleitet von den kurfürstlichen Leibpagen.

Am 21. September 1691 war Johann Georg III. von Sachsen, gerade einmal 44 Jahre alt und alles andere als ein kränklicher Schwächling, verstorben. Ein Jahr zuvor hatte der Kurfürst den Oberbefehl über die Reichsarmee, die gegen Frankreich zu Felde zog, übernommen. Es war nicht sein erster großer Feldzug: Schon 1683 hatte er erfolgreich an der Seite von Johann Sobieski gegen die Türken vor Wien gekämpft. „Der Kurfürst von Sachsen ist ein redlicher Mann mit einem geraden Herzen“ hatte der Oberbefehlshaber des christlichen Heeres über den Mann gesagt, der schöne Frauen und italienische Opern, gutes Essen und gelungene Baukunst liebte, das alles aber leicht und gerne gegen das Leben eines Soldaten eintauschte.

Im Frankreichfeldzug hatte er weniger Glück. Militärische Erfolge blieben aus und schließlich wütete eine Seuche im Heerlager. Johann Georg steckte sich an und wurde nach Tübingen ins Collegium illustre gebracht. Das hatte seine Glanzzeiten als Hohe Schule für den protestantischen Adel Europas längst hinter sich, diente mittlerweile als Herberge für Diplomaten und Fürsten und sollte die letzte Lebensstation des begeisterten Soldaten und sächsischen Kurfürsten werden.

Dem Leichenwagen folgt ein hochgewachsener, schlanker Mann. Nicht mehr jung. Dunkler Teint, dunkle Augen, die langen schwarzen Haare von grauen Strähnen durchzogen. Eine ungewöhnliche Erscheinung. Kein anderer aus dem feierlichen kurfürstlichen Leichenzug wird von den Tübingern so eingehend gemustert wie dieser fremdländische Mann. Er heißt Johannes Schadowitz und ist Obrist und Brigadechef der gesamten kurfürstlichen Garde-Kavallerie. Man nennt ihn Krabat, den Kroaten, weil er im Komitat Agram geboren ist, aber seine Familie stammt aus der Oberlausitz. Er ist klug, gebildet, nachdenklich und von einer Aura aus Einsamkeit umgeben. Wenn er spricht, klingt das Sorbische durch, wie es in der Lausitz gesprochen wird. Angeblich ist er ein Zauberer, ein Schwarzkünstler, einer, der gelernt hat, die Mächte und Gewalten der Finsternis zu beherrschen. Nachts soll er sich in einen Raben verwandeln, sagt man. Als Betteljunge hätte er sich durchgeschlagen, bis er schließlich in einer schwarzen Mühle untergekommen sei, wo er die Zauberei erlernt hätte. Fast hätte ihn sein Meister an den Teufel verkauft, aber schließlich habe sich ein Mädchen in ihn verliebt und ihn aus der Gewalt des Meisters befreit, weil sie ihn aus der Menge verwandelter Raben herausgefunden habe. Dann sei er als Reiter in die Leibcompanie des sächsischen Kurfürsten eingetreten. Als Rittmeister der Garde-Kavallerie hat er den Verstorbenen, dem er jetzt als Anführer der kurfürstlichen Leibgarde die letzte Ehre erweist, in die Schlacht bei Kahlenberg im Großen Türkenkrieg begleitet.

Die Leichenprozession zieht zur Neckarbrücke. An den Straßenrändern stehen Knaben und singen. Ihre klaren Stimmen sind in der Septemberluft noch zu hören, als der Zug den Weg zur Stiftskirche nimmt.

Johannes Schadowitz betritt das Gotteshaus und bekreuzigt sich. Er wird zeit seines Lebens katholisch bleiben. Schon wegen der Kantorka, die ihn gerettet hat. Dass 300 Jahre später eines der berühmtesten Jugendbücher der deutschen Literatur diese Geschichte erzählen wird, kann er an diesem 28. September 1691 nicht wissen. Andrea Bachmann

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28.09.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 28.09.2016, 01:00 Uhr

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