Probebau für die Uni

Häusergeschichten: Der Tübinger Fruchtkasten

Schöner bauen 1474. Kaum ein anderes Gebäude in der Tübinger Altstadt beeindruckt mehr als der Fruchtkasten, die ehemalige Gewerbeschule, die ehemalige Albert-Schweitzer-Realschule, das heutige Bürgeramt.

20.09.2017

Seit 2003 ist im Tübinger Fruchtkasten das Bürgeramt untergebracht. Archivbild: Metz

Seit 2003 ist im Tübinger Fruchtkasten das Bürgeramt untergebracht. Archivbild: Metz

Tübingen. Als das prachtvolle Fachwerkgebäude am 20. September 2003 mit einem Tag der offenen Tür offiziell neu zum Bürgeramt eingeweiht wurde, war das das Ende einer der aufregendsten Baustellen der Stadt. Drei Jahre lang hatten die Tübingerinnen und Tübinger zuschauen können, wie Männer in schwarzen Cordsamtanzügen mit breitkrempigen Hüten und weißen Hemden auf den Balken und Pfeilern des jahrhundertealten Fachwerkbaus balancierten. Und wenn der eine oder andere Mitte der 90er-Jahre geborenen Junge jetzt eine Zimmermannslehre macht, wurde vielleicht dort in der Schmiedtorstraße der Grundstein gelegt – oder besser der erste Ständer aufgezimmert.

Die Bauhandwerker, die Mitte der 70er-Jahre des 15. Jahrhunderts, kurz vor Gründung der Universität, dieses riesige Lagerhaus mit Kelterbetrieb gebaut hatten, hatten gute Arbeit geleistet: sorgfältig gesetzte Abbundzeichen machten es möglich, auch über 500 Jahre später noch nachverfolgen zu können, wie das große Haus geplant und gebaut worden war.

Auf einem Holzrost

im Ammersumpf

Und groß ist es wirklich: Das Haus ist 28,5 Meter lang und 18 Meter breit. Die Halle im Erdgeschoss ist sechs Meter hoch und beherbergte früher vier große Kelternbäume. Im Obergeschoss konnte man über 5000 Zentner Heu lagern und auf dem Dachboden war Platz für 4000 Scheffel Getreide – das entspricht in etwa 500 Tonnen Dinkel.

Damit das Haus nicht im schlammigen Boden des Ammertals versank, hatten es die Zimmerer des späten 15. Jahrhunderts auf einen in etwa zwei Meter Tiefe eingebrachten Holzrost gebaut. Auf diese Weise „schwamm“ das Haus im Ammersumpf. Die statischen Gutachten bei der Sanierung ergaben, dass dieser Holzrost mittlerweile vermodert war und sich unter den Außenfundamenten Hohlräume gebildet hatten, über denen das Haus sozusagen schwebte. Aber es blieb stehen.

Mit kunstvollen

Verzierungen

Im Jahr 1491 wurde der Fruchtkasten zum ersten Mal erwähnt. Da ist in einer Spitalurkunde zu lesen: „Jörg Waiblinger, Bürger zu Tübingen, verschreibt Jörg Knapp und Hartmann Meislin, Pflegherrn zu Sankt Wendel in Tübingen, für ein Kapital einen jährlichen Zins aus seinem Haus gegenüber der herrschaftlichen Kelter.“ 1508 kommt die nächste Erwähnung, wieder in einer Spitalurkunde: „Jakob Schatz der Jung., Bürger zu Tübingen, verschreibt der St. Niklausen Pfleg zu Tübingen für ein Darlehen einen weiteren Zins aus seinem Haus bei der fürstlichen Kelter an der Ammer.“

Das Gebäude, das lange als „Herzoglicher Fruchtkasten“ bezeichnet wurde, war aber viel älter. Im Rahmen der Sanierung zu Beginn des neuen Jahrtausends führte der Bauhistoriker Tilmann Marstaller dendrochronologische Untersuchungen durch und konnte feststellen, dass das Bauholz im Winter 1473 / 74 gefällt wurde. 1475 wird das große Haus fertig gewesen sein. Weil es in seiner Struktur, seiner qualitätsvollen Abzimmerung und seinen überaus reichen und kunstvollen Verzierungen den einige Jahre später entstandenen Universitätsbauten ähnelt, vermutet Marstaller, dass der württembergische Graf diesen riesigen Fruchtkasten als eine Art „Probebau“ für die repräsentativen Universitätsgebäude errichten ließ. Als „herzoglicher Fruchtkasten“ wurde das Haus jedenfalls nicht erbaut – 1474 trennten Graf Eberhard noch gute 20 Jahre von der Erhebung in den Herzogstand.

Ein Schmuckstück der

Zimmermannskunst

Das gesamte 20. Jahrhundert hindurch wurde der Fruchtkasten als Schule genutzt. Unzählige Umbauten hatten fast vergessen lassen, was für ein Schmuckstück alemannischer Zimmermannskunst in der Unterstadt stand. Dann stellten die Zimmerleute die dreischiffige große Halle wieder her, gönnten dem Bau offene Räume mit viel Luft und ließen allen Materialien von der Eiche bis zum Beton für die Treppenhäuser und Aufzüge ihre ursprünglichen Farben. Jetzt sieht der Fruchtkasten wieder aus wie das, was er einmal war: eine fürstliche Scheune.Andrea Bachmann

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Erstellt:
20.09.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 48sec
zuletzt aktualisiert: 20.09.2017, 01:00 Uhr

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