Les Fraises des bois

Les Fraises des bois

Zwei junge Leute brechen gewaltsam aus der Enge ihres provinziellen Alltags aus.

01.10.2012

Von Klaus-Peter Eichele

Les Fraises des bois

Dominique Choisy, 53, ist hauptberuflich Filmprofessor an der Kunsthochschule in Amiens und Cutter beim Fernsehen. Bei den Französischen Filmtagen präsentiert er seine zweite Regie-Arbeit, das dunkle Sozialmärchen „Les fraises des bois? (Walderbeeren).

Amiens kennt der Tourist von seiner prachtvollen Kathedrale und der pittoresken Altstadt. Im beeindruckend irritierenden Film „Les fraises des bois?(am heutigen Samstag, 15.30 Uhr, im Museum) erscheint die nordfranzösische Kleinstadt jedoch als trostloses Sammelsurium von Industrieanlagen, Schnellstraßen, Fitnessstudios und Vorstadtreihenhäusern. „Tja?, sagt Dominique Choisy im Interview, „so sieht man diese Stadt eben, wenn man?, wie er selbst, „dort lebt.?

Allerdings sei Amiens der für ihn der zwar nahe liegende, aber durchaus nicht zwingende Schauplatz seines Films. Die einförmige Tristesse seiner Außenbezirke stehe vielmehr symbolisch für Verhältnisse, unter denen junge Leute in ganz Frankreich, und nicht nur dort, leiden. Im konkreten Fall sind das Gabriel und Violette, beide um die 20. Er, ein armer schwuler Wicht, arbeitet tagsüber an der Supermarktkasse und danach als für alle sexuellen Vorlieben geeigneter Callboy, um notdürftig über die Runden zu kommen. Sie kommt zwar aus abgesicherten Verhältnissen, lebt aber in einer vollkommen zerrütteten Familie und wird von ihrem Vater sexuell missbraucht. Zunächst unabhängig voneinander versuchen die beiden, sich aus ihren jeweiligen Lebenshöllen zu befreien ? und zwar mit äußerst radikalen Mitteln.

„Die Geschichte ist frei erfunden?, sagt Choisy, „allerdings hat sie mehrere wahre Kerne?. So habe er in letzter Zeit mehrmals in der Zeitung gelesen, dass Jugendliche ihre Eltern umgebracht haben. Von seinen Studentinnen weiß er, dass nicht wenige sich prostituieren, um ihr Studium finanzieren zu können. „Ein Großteil der jungen Leute in Frankreich lebt unterhalb der Armutsgrenze? ? diese strukturelle Gewalt könne jederzeit in individuelle umschlagen.

Freilich findet das anfangs hyperrealistische Sozialdrama am Ende einen Fluchtweg ins Märchenhafte ? Happy-end inklusive. „Ich will die Zuschauer nicht ganz ohne Hoffnung aus dem Kino entlassen?, begründet Choisy den abrupten Genrewechsel. Außerdem werde dadurch klar, dass er die Protagonisten nicht moralisch verurteile, im Gegenteil: „Eigentlich finde ich richtig, was sie tun.?