Der Kommentar

Pilze und Physiker

18.10.2017

Von Angelika Brieschke

Pilze und Physiker

Jahrelang hatten wir sie in unserem Vorratsraum gelagert, von mir misstrauisch beäugt: Drei Weckgläser mit selbst gefundenen, getrockneten Maronen-Röhrlingen setzten dort mehr und mehr Staub an. Diese Pilze aß nur mein Mann. Was nicht daran lag, dass mir selbstgesammelte Pilze im Grunde nie ganz geheuer sind. Maronen-Röhrlinge sind kaum zu verwechseln, und die Pilze, mit denen man sie verwechseln könnte, sind nicht giftig, sondern höchstens ungenießbar. Nein, das war es nicht, sondern: Diese Pilze waren radioaktiv.

Im Herbst 2004 hatten wir meine Schwester in Oberschwaben besucht und dort bei einem Spaziergang unglaublich viele Maronen-Röhrlinge gefunden. Mein Mann war überglücklich. Wohlschmeckende Pilze in rauen Mengen, direkt am Wegesrand! Er sammelte ganze Körbe ein.

Mein Schwager, der dort Förster ist, winkte lässig ab. Pilze in rauen Mengen fand er in seinem Wald immer wieder. Mitnehmen und essen aber – das tat er nur selten. Die Pilze dort waren seit 1986 hoch radioaktiv belastet. Damals war im fernen ukrainischen Tschernobyl ein Atomreaktor explodiert und eine der tagelang über Europa umherirrenden Wolken mit radioaktiven Teilchen fiel schließlich im Regen in Oberschwaben nieder.

Waldböden und Pilze speichern Radioaktivität sehr gut. Auch nach 20, 30 Jahren ist die Belastung immer noch sehr hoch, zu hoch. Geschossene Wildschweine werden in Oberschwaben heute noch regelmäßig auf Radioaktivität hin kontrolliert – und immer mal wieder als zu belastet aussortiert.

Dennoch konnte sich mein Mann nicht überwinden, diese schönen Pilze einfach wegzuwerfen: Er trocknete sie, lagerte sie in drei Weckgläsern und ab und an aß er einige wenige. Im Laufe der Zeit vergaß er sie. Dachte ich. Zehn Jahre und zwei Umzüge später beschloss ich, dass die Pilze lange genug bei uns gewohnt haben und nun endlich in Ruhe vergehen dürfen. Ich warf sie weg. Leider hatte ich nicht mit dem (sehr!) punktuellen Gedächtnis meines Mannes und seiner Bastelleidenschaft gerechnet.

Just in dieser Zeit baute er zusammen mit einem Physikerfreund einen Geigerzähler und als die Frage aufkam, wie man überprüfen könne, ob er funktioniert, kamen ihm natürlich seine radioaktiven Pilze in den Sinn. Ertappt musste ich zugeben, dass ich sie gerade entsorgt hatte: nach langen zehn Jahren zwei Wochen zu früh. Angelika Brieschke / Bild: mikrogaul- stock.adobe / fotolia

Zum Artikel

Erstellt:
18.10.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 10sec
zuletzt aktualisiert: 18.10.2017, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen