Stadtbild verändert

Tübingens Oberbürgermeister Julius Gös war ein leidenschaftlicher Bauherr

Am 19. Oktober 1897 starb Tübingens Oberbürgermeister Julius Gös.

19.10.2016

Von Andrea Bachmann

Natürlich gibt es auch ein Bürgermeisterporträt Julius Gös (1874 bis 1897) im Tübinger Rathaus. Archivbild: Metz

Natürlich gibt es auch ein Bürgermeisterporträt Julius Gös (1874 bis 1897) im Tübinger Rathaus. Archivbild: Metz

Es ist ein schöner Herbsttag, die Sonne scheint, die Straßen sind voller Menschen. Heinrike Gös steht am weit geöffneten Fenster und schaut hinaus auf diese ganze Geschäftigkeit. Sie hat nicht mehr viel Zeit, sie muss sich jetzt sammeln und Haltung bewahren und die Dinge tun, die man von der Gattin des Oberbürgermeisters erwartet. Der Oberbürgermeister selbst wird das nicht tun können, der liegt auf dem Bett und ist tot. Der Hausarzt hat gerade eben den Totenschein ausgestellt und ihr die Hand gedrückt. „Liebe, gnädige Frau ...“ Er hätte sie in den Arm nehmen sollen, fest, dann hätte sie vielleicht geweint. Jetzt ist sie wütend. Fassungslos. Ihr Julius kann doch nicht einfach so sterben und sie allein lassen!

1858 haben sie geheiratet, da war sie schon Mitte 20 und fast ein altes Mädchen, aber dem Rechtsassessor ohne Geld und Namen hatte der Vater die Tochter nicht geben wollen und außerdem hätte sie dann auch nicht mehr in der väterlichen Weinstube aushelfen können – was sie noch heute manchmal vermisst. Aber dann hatte Julius endlich eine eigene Anwaltskanzlei und mischte sich immer mehr in die Belange der Stadt ein. Die Frau Oberbürgermeister lächelt. Einmal musste ihr Julius einen Rechtsstreit gegen Ludwig Uhland ausfechten. Es ging um die Instandsetzung eines Gartenzauns und um sehr wenig Geld. Großzügig war der große Politiker nicht gerade gewesen.

Julius schon. Nicht nur, wenn es darum ging, das G’sälz gleich aus dem Häfele zu löffeln. Er dachte in Zusammenhängen und Zeiträumen, die so gar nicht zu dem engen Tübingen passten. Als er 1874 zum Stadtschultheißen und später zum Oberbürgermeister gewählt wurde, konnte er endlich seine Ideen in die Tat umsetzen: Er sorgte dafür, dass die Misthaufen von den Straßen verschwanden und Wasserleitungen und ein Abwasserkanalsystem mehr Sauberkeit in die Stadt brachten. Da hatte er noch gegen heftigen Widerstand kämpfen müssen, im Gemeinderat fand man diese Maßnahmen überflüssig und kostspielig. 1875 wurde Tübingen Garnisonsstadt und in der Nähe des Bahnhofs wurde eine Kaserne gebaut. Jetzt kamen wieder mehr Studenten nach Tübingen, die in schmucken Uniformen durch die Stadt liefen, weil sie während des Studiums ihren Militärdienst ableisteten. Überhaupt, die Universität! Der hatte ihr Julius näher gestanden als die Schultheißen vor ihm. Sein Vater war Dekan in Aalen gewesen, wo Julius seine Kindheit verbracht hatte. Dann war die Familie nach Tübingen gezogen und Julius hatte Jura studiert. Da stand es außer Frage, das 400-jährige Universitätsjubiläum im Jahr 1877 auch als Stadt zu feiern. Heinrike war es ein bisschen unangenehm, als auf der zu diesem Anlass neu gestalteten Rathausfassade links an der Sprechkanzel „Julius Goes Praefectus urbi“ neben dem Familienwappen angebracht wurde. Aber Julius hatte sich darüber fast mehr gefreut als noch schicklich war. Am meisten gefallen hatte ihm jedoch die neue Mühlstraße, die vorher nur ein besserer Hohlweg gewesen war. Auch wenn es ihn sehr gestört hatte, als er zur Einweihung 1887 neben der königlichen Kutsche herlaufen musste, den Zylinder in der Hand. Bei allem Respekt dem König gegenüber – da hatte er sich untertäniger fühlen müssen als es sonst seine Art war.

Bauen war seine Leidenschaft. Wenn eine neue Straße entstehen sollte, war ihr Julius in seinem Element. Die Frau Oberbürgermeister hat längst aufgehört zu zählen: Etwa dreihundert öffentliche und private Gebäude, zahlreiche neue Straßen, zwei neue Schulhäuser, die Kaserne und der Schlachthof, die Alleenbrücke über den Neckar, der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisturm auf dem Österberg und vieles andere mehr waren im letzten Vierteljahrhundert entstanden. Auf ihrem Kleiderschrank stapeln sich die Hutschachteln mit all den Hübschigkeiten, die sie sich für die vielen Einweihungen hatte kaufen müssen. In den 23 Jahren, in denen ihr Julius der Tübinger Stadtverwaltung vorstand hatte sich Tübingen radikal verändert und war fast eine moderne Stadt geworden. Jetzt wird sie sich einen schwarzen Hut mit Trauerschleier brauchen. Heinrike Gös seufzt und schließt das Fenster. Andrea Bachmann

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19.10.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 19.10.2016, 01:00 Uhr

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