Der Kommentar

Alle Ziele aufgegeben

07.01.2021

Von Angelika Brieschke

Jetzt ist die große Zeit für große Ziele. Also so was wie: weniger Zucker, Fleisch, Fernsehen, Alkohol, Stress und dafür mehr Sport, Ruhe, Frischluft, Gemüse, gute Literatur und Geduld mit dummen Mitmenschen.

Solche Vorsätze nehme ich mir schon lange nicht mehr vor und schon gar nicht am Anfang eines neuen Jahres. Dafür kann ich auf eine zu lange Reihe verbissen durchgehaltener Selbstkasteiungen zurückblicken und inzwischen fehlt mir irgendwie der sinnhafte Ernst dafür. Anfang des Jahres zeigt sich die Welt im Wesentlichen kalt und dunkel und trüb und da hilft meiner Meinung nach nur Sofa und Schokolade.

Da sehe ich etliche Achtsamkeits- und Zumba-Trainerinnen den Kopf schütteln – vielleicht zu Recht. Aber meine „Work-Life-Balance“ ist dann am besten, wenn ich Zeit habe, einfach sinnfrei in die Luft zu gucken.

Was soll das eigentlich sein: „Work-Life-Balance“? Wörtlich übersetzt heißt das „Arbeit-Leben-Gleichgewicht“ und ist meiner Meinung nach der dämlichste Trendbegriff der letzten Jahre. Gleichgewicht zwischen Leben und Arbeit? Ist denn Leben und Arbeit ein Gegensatzpaar, das ausbalanciert werden muss? Wenn ja, dann stellen sich mir da sofort existentielle Fragen: Ist Arbeiten kein Leben? Findet Leben nur außerhalb von Arbeit statt? Ein deprimierender Gedanke, dann doch lieber über Ziele und Neujahrsvorsätze nachdenken.

Einer der schönsten Sätze, die ich im vergangenen Jahr – in diesem schwierigen Corona-Jahr – gelesen habe, stand im Oktober auf einer Steinlachtalseite im SCHWÄBISCHEN TAGBLATT. Da sagte Lennart Faustmann, der Chorleiter der Ofterdinger Mauritiuskantorei: „Wir haben alle Ziele aufgegeben und werden nur noch um des Singens willen singen.“

Was für ein wunderbarer Satz: Singen um des Singens willen – ganz ohne geplanten Auftritt, ganz ohne Ziel. Das ist das, was wir in diesen Pandemiezeiten lernen können, wenn wir etwas lernen wollen: Sich an kleinen Dingen freuen. Also zum Beispiel nicht schlecht gelaunt darauf warten, dass wir endlich wieder für zweieinhalb Tage nach Mallorca fliegen können, sondern auf Spaziergängen im nahen Wald schöne Ecken entdecken.

Kleine Ziele – da hat mir doch neulich mein Sohn was über die Ein-Prozent-Methode erzählt, die nach dem Prinzip „minimale Veränderung – maximale Wirkung“ funktioniere. Also jeden Tag nur ein bisschen was ändern. Ein Beispiel? Wenn man anfangen möchte, mehr Sport zu machen, nicht mit einem Fünf-Kilometer-Lauf beginnen, sondern klein anfangen, ganz klein. Für den ersten Tag wird da vorgeschlagen, erst mal nur für eine Weile eine Jogginghose anzuziehen. – Okay, denke ich, das ist machbar.