Museum der Stadt

Besondere Bauten der Region: Tübinger Kornhaus

1453 baute sich die Tübinger Bürgerschaft eine Markthalle für den Getreidehandel, in unmittelbarer Nähe zum Marktplatz und direkt an den Ammerkanal.

30.06.2021

Ein bisschen hängt es ja durch, das Kornhaus. Bild: Erich Sommer

Ein bisschen hängt es ja durch, das Kornhaus. Bild: Erich Sommer

Ursprünglich bestand das Tübinger Kornhaus aus einem traufständigen Kernbau mit zwei Stockwerken: Das Erdgeschoss diente als Markthalle, im Obergeschoss und auf dem Dachboden befanden sich Speicher und Kontore.

Das Kornhaus entwickelte sich schnell zu einem wichtigen regionalen Handelsplatz und wurde schnell zu klein. 1513 errichtete man deshalb ein Querhaus, 1607 verpasste man dem Langhaus ein weiteres Stockwerk. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts handelte man im Erdgeschoss mit Getreide, im Rest des Gebäudes kam alles Mögliche unter, was eine Stadtgesellschaft so brauchen kann: Räume für Feste und Feiern, ein Fechtboden und viele Jahre eine Schule, der Vorläufer der heutigen Silcherschule. Im 20. Jahrhundert gaben sich die Feuerwehr, das Rote Kreuz, die Stadtverwaltung und manches mehr die Klinke in die Hand.

1985 begannen die umfangreichsten Sanierungsarbeiten und Umbauten, die das Kornhaus je gesehen hatte. Aus dem verbauten, multifunktional genutzten alten Kornhaus wurde das Stadtmuseum.

Bevor man alles schön und neu machte, bot die Baustelle eine großartige Möglichkeit, nach dem zu forschen, was vor dem Kornhaus an dieser Stelle der Stadt gestanden hatte. Die Stadtarchäologen förderten jede Menge neuer Erkenntnisse über den Verlauf von Stadtbefestigung und Ammerkanal zu Tage, fanden Kellerfundamente und eine mit einem Flechtzaun gesicherte Grube, die vermutlich von Gerbern genutzt wurde: In der Lohgerberei werden die gereinigten Häute zusammen mit Eichen- und Tannenrinden sowie Galläpfeln für mehrere Monate in eine Grube geschichtet, um sie zu strapazierfähigem Leder zu verarbeiten. Gerber benötigen viel Wasser für ihr Handwerk, deshalb befanden sich die Gerberwerkstätten unmittelbar am Ammerkanal.

Der diente nicht nur den Gerbern, Färbern und anderen Gewerken als Wasserlieferant, sondern trieb auch Mühlen an, sorgte für Löschwasser und transportierte Dreck und Unrat aus der Stadt. Unvorstellbar, dass jemand das Wasser hätte trinken mögen! Zu diesem Zweck schöpfte man Grundwasser aus tiefen Schöpfbrunnen, von denen ein Rest hinter dem Kornhaus steht.

Das „neue“ Kornhaus sollte dem Stadtmuseum als Domizil dienen. Das war ein spannendes Projekt, denn mit seiner langen Geschichte ist das Kornhaus ja selbst bereits ein Museumsobjekt – das größte und wichtigste des Museums, das es beherbergt.

Eine mehr oder weniger „historische“ Rekonstruktion war deshalb so unmöglich wie unerwünscht. Deshalb entschied man sich für eine Lösung, die Mitte der 1980er-Jahre noch äußerst ungewöhnlich war: Man sollte dem Gebäude ansehen können, was von der ursprünglichen Bausubstanz noch vorhanden war, was repariert werden und was ganz neu hinzukommen musste, damit das Haus als „Ausstellungsobjekt“ funktionieren kann.

So wurde den neuen Holzbalken keine künstliche Patina verpasst. Im Gebäudeinnern verlaufen alle Rohre und Leitungen über dem Putz, damit deutlich ist, dass sie später hinzugefügt wurden. Man verzichtete auf einen Fußbodenbelag und beließ den Estrich. Stahl und Beton als die Baustoffe des 20. Jahrhunderts ersetzten das Holz und die Strohlehme des Mittelalters. Auch die Fenster und ehemaligen Toreinfahrten wurden so gestaltet, dass sie einen Kontrast zum freigelegten Fachwerk bildeten.

Natürlich gab es heftige Proteste. Noch heute kann es passieren, dass auf Stadtführungen Gäste fragen, ob das Haus noch eine Baustelle ist. Aber wer einmal drin war, um – bei freiem Eintritt – Dauer- und Wechselausstellungen zur Stadtgeschichte anzuschauen oder sich in den Trickfilm- und Scherenschnittzauberwelten von Lotte Reiniger zu verlieren, erkennt schnell, wie gut es tut, wenn ein Haus so viel Vergangenheit atmet und trotzdem ganz im Heute lebt.

Gut 30 Jahre nach der großen Sanierung wird es jetzt Stück für Stück wieder renoviert, um Bürgerschaft und Gästen immer wieder neue Einblicke und Ausblicke auf Tübingen zu verschaffen. Andrea Bachmann