Adel an Tübingens Riviera

Besondere Bauten in der Region: Neckarhalde 64 in Tübingen

23.02.2022

Der Architekt Conradin Walther gab der Villa Hügel ein ländliches Aussehen. Bilder: Erich Sommer

Der Architekt Conradin Walther gab der Villa Hügel ein ländliches Aussehen. Bilder: Erich Sommer

Die sogenannte Villa Hügel in der Neckarhalde 64 gilt als eines der schönsten Häuser in Tübingen. Der fünfstöckige Fachwerkbau mit dem prachtvollen Erker ist meilenweit zu sehen. Das Giebeldach ist flach und an den Spitzen abgewalmt, was mit den umlaufenden Holzgalerien über der Terrasse mit der eingewölbten Nische an ein Tiroler Chalet erinnert.

Die repräsentative Villa leisteten sich 1899 der Freiherr Karl von Hügel und seine Frau Helene, geb. von Soden. Karl von Hügel war Landgerichtsdirektor und ab 1899 erster Vorstand des Gemeinnützigen Wohnungsvereins in Tübingen, der heutigen GWG. In der Südstadt entstanden unter seiner Ägide gesunde, kleinere Wohnungen, hauptsächlich für die Arbeiterklasse, Kleinhandwerker und niedere Beamte, möglichst billig und solid. Für sich selber ließ er ebenfalls solide bauen – aber nicht eben billig. Kein anderer als der renommierte Nürnberger Architekt Conradin Walther wurde für die stilvolle Villa im altdeutschen Stil engagiert. Walther hatte in in seiner Heimatstadt mehrere Gebäude in teilweise monumentaler Ausfertigung errichtet und setzte sich für das ein, was als Nürnberger Stil in die Architekturgeschichte eingegangen ist: Der Bauboom, der Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur in Nürnberg den Bedarf einer rasant wachsenden Bevölkerung decken sollte, ließ befürchten, dass die Stadt Albrecht Dürers ihr historisches Gesicht verlieren könnte. In einer romantisierenden Gegenbewegung zu allem Modernen verwendete man eine historisierende Formensprache im Geist der Gotik und der Hochrenaissance, die den emotionalen Bedürfnissen der Bevölkerung nach altdeutscher Bauweise Rechnung trug. Diese malerischen Formen kamen auch in Tübingen an und so verpflichtete die Stadt Conradin Walther für die Bauten in der neu angelegten Mühlstraße, die gestalterisch so anspruchsvoll wie möglich sein sollten.

Auch das Berghaus Hügel entsprach diesem rein altdeutschen Stil, wurde aber nicht aus Sandstein gebaut und mit reichen Ornamenten versehen wie die Häuser in der Mühlstraße, sondern bekam seiner Lage entsprechend ein etwas ländlicheres Aussehen.

Die Lage war übrigens das Beste, was in Tübingen um 1900 zu haben war. Die Neckarhalde galt als einer der schönsten und exklusivsten Stadtteile Tübingens, die Tübinger Riviera: Geschützte Lage, wunderbarer Sonnenschein, herrliches Panorama und der Neckar direkt vor der Haustür. Die Bauplätze waren hier teurer als im Rest der Stadt und die durch die steilen Hänge der Pfalzhalde verursachten hohen Baukosten musste man sich ebenfalls leisten können.

Leider konnte Karl von Hügel sein schickes Chalet nicht lange genießen, er starb bereits 1902. Seine Frau vermachte das Haus der katholischen Kirche. Die stellte es der Katholischen Hochschulgemeinde zur Verfügung, die dort zu Hause war, bis mit dem Erasmushaus in der Belthlestraße eine weniger repräsentative, aber funktionalere Bleibe gebaut wurde.

1978 minderte der Bau des Schlossbergtunnels die Attraktivität der Villa beträchtlich. Niemand wollte mehr in dem lärmumtosten Haus wohnen. Deshalb war man heilfroh, als vier Ordensschwestern aus dem Kölner Karmel nach einem Ort in Tübingen fragten, an dem sie ein neues Kloster gründen konnten. Sie zogen in die Villa mit den beeindruckenden, aber unpraktischen Treppenhäusern und Dielen, verwandelten die Gemächer der Adelsfamilie in bescheidene Schwesternzellen und richteten im Erdgeschoss eine Kapelle ein, deren Fenster der bekannte Künstler Sieger Köder gestaltete. Die Villa Hügel wurde zu einem Raum des stillen, inneren Betens, dem „Verweilen bei einem Freund“ wie die spanische Ordensgründerin Teresa von Avila die stundenlangen Schweigemeditationen nannte. Das Kloster der unbeschuhten Karmelitinnen erhielt den Namen der Philosophin Edith Stein, die 1922 zum Christentum übergetreten und 1933 in den Kölner Karmel eingetreten war. Eine der Schwestern, die Literaturwissenschaftlerin Waltraud Herbstrith, war eine Spezialistin für das Werk von Edith Stein, die von den Nazis ermordet und 1998 heilig gesprochen wurde. Sie machte aus dem Kloster ein Forschungszentrum mit Bibliothek und Archiv.

2011 wurden den noch verbliebenen, mittlerweile hochbetagten Schwestern die Treppen zu steil und die Heizkosten zu hoch. Sie verließen das Haus. Eine Zeitlang gewährte es noch einer Gruppe Jesidinnen Schutz und Obdach. Zur Zeit steht es leer. Andrea Bachmann

Erker am ehemaligen Kloster Edith-Stein-Karmel.

Erker am ehemaligen Kloster Edith-Stein-Karmel.

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23.02.2022, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 23.02.2022, 01:00 Uhr

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