Backsteinpalast fürs Militär

Besondere Bauten in der Region: die Thiepval-Kaserne

17.03.2021

Besondere Bauten in der Region: die Thiepval-Kaserne

Manchmal fragen Touristen, die vom Schloss hinunter auf Neckar und Südstadt schauen, was das für ein „Palast“ sei, der ihnen da zu Füßen liegt. Sollte Alexander von Tritschler, württembergischer Baudirektor und ab 1860 Professor am Stuttgarter Polytechnicum die Möglichkeit haben, das zu hören, wäre er sicherlich erfreut. Als Architekt der neuen Infanterie-Kaserne in der Universitätsstadt Tübingen wollte er genau das erreichen: Der verputzte Backsteinbau mit Werksteingliederung sollte an die Kastelle und Paläste der italienischen Frührenaissance erinnern.

1873 war Baubeginn, bereits zwei Jahre später zog das 7. Württembergische Infanterieregiment ein und machte aus Tübingen eine Garnisonsstadt. Das fand ungeteilte Zustimmung in der Bevölkerung. Durch die Garnison erhoffte man sich wirtschaftliche Impulse, ein höheres politisches Ansehen und außerdem konnten jetzt die Studenten während ihres Studiums ihren einjährigen Militärdienst ableisten, was die Attraktivität der Universitätsstadt ungemein erhöhte. Zu dem großen Mannschaftsgebäude kamen noch ein paar Neben- und Wirtschaftseinrichtungen und 1913 ein Stabsgebäude.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde im Rahmen des Friedensvertrags von Versailles das deutsche Heer auf 100 000 Mann reduziert. Die Kaserne war überflüssig und man richtete dort 47 geräumige Privatwohnungen ein. 1934 mussten die Bewohner wieder ausziehen und einer erneuten militärischen Nutzung Platz machen.

1938 bekam die Alte Kaserne, wie sie mittlerweile hieß, einen neuen Namen: Thiepval ist ein kleiner Ort in Frankreich, der während des Ersten Weltkriegs Schauplatz eines zähen und verlustreichen Stellungskriegs war, an dem auf deutscher Seite vor allem württembergische Infanterie beteiligt war. Der Name sollte Rachegelüste und Revanchegedanken der dort untergebrachten Wehrmachtssoldaten anheizen.

1945 übernahm die französische Armee die Kaserne, kurzfristig waren dort auch ehemalige polnische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene untergebracht.

Nachdem die französischen Streitkräfte 1978 die Kaserne verlassen hatten, stand das Gebäude zunächst leer. Man dachte über eine Nutzung als Studierendenwohnheim nach, scheute aber die damit verbundenen Renovierungskosten. Viel günstiger war es, dort Asylbewerber unterzubringen. Die Thiepvalkaserne verwandelte sich in eine der größten Sammelunterkünfte im Land. Im Sommer 1981 lebten dort etwa 130 Menschen aus 16 verschiedenen Nationen, im Februar 1982 kamen dann noch einmal 328 Männer, Frauen und Kinder aus Osteuropa dazu.

Im Dezember 1986 statteten drei Tübinger Konfirmanden den Asylbewerbern einen Weihnachtsbesuch ab, über den sie einen mehrseitigen Bericht verfassten: „Hierzu eine Beschreibung der äußeren Wohnumstände. Die Wände sind, soweit sie nicht beschmiert sind, kahl und ohne Farbanstrich. Fast aller Putz ist abgebröckelt. Die Treppen und Bohlen sind wackelig, die Fenster bestehen zum großen Teil aus Holzvernagelung. Zerbrochene Scheiben werden anscheinend nur unzureichend ersetzt. Gänge und Treppenhäuser sind kalt und sehr zugig. Die Sanitätseinrichtungen sind ebenfalls in menschenunwürdigem Zustand: kalt, zugig, in einem stockfinsteren Duschraum funktioniert nicht einmal die Beleuchtung. Da so viele Leute die gleichen Anlagen benutzen müssen, ist hygienische Sauberhaltung unmöglich.“

1989 brachte man statt der Asylbewerber dort Spätaussiedler unter, ohne dass die Zustände dort wesentlich verbessert wurden. Erst 2002 wurden sämtliche Mannschafts- und Nebengebäude umfassend saniert. Es entstanden luxuriöse, private Wohnungen, Büros und das Besucherzentrum des Finanzamtes. Das ehemalige Stabsgebäude, das nach einer spektakulären Hausbesetzung in ein selbstverwaltetes Wohnprojekt umgewandelt wurde, wurde nach der Sanierung 2004 sogar als „Denkmal des Monats 2006“ ausgezeichnet. Wie es sich für einen „Palast“ gehört. Andrea Bachmann

Angebauter Balkon zur Schellingstraße. Bilder: Erich Sommer

Angebauter Balkon zur Schellingstraße. Bilder: Erich Sommer