Der Kommentar

Bitte nicht noch ein Gymnasium!

18.07.2018

Von Angelika Brieschke

Tübingen hat immer mehr Kinder und denkt über ein weiteres Gymnasium oder eine weitere Schule, die zum Abitur führt, nach. Verwundert fragt man sich: Gibt es da nicht auch eine andere Möglichkeit? Zum Beispiel: eine Realschule. Ja, klar – die Realschule in Tübingen ist nahezu tot. Aber warum eigentlich?

Vor einigen Jahren war ich bei einem der letzten offenen Abende der jetzt langsam absterbenden Realschule. Also bei der Veranstaltung, bei der sich die Schule den zukünftigen Fünftklässlern und deren Eltern präsentiert. Das Haus war gesteckt voll und die damalige kommissarische Schulleiterin glücklich. Meinte sie doch, dass bei so vielen Interessierten ihre Schule die zwei fünften Klassen vollkriegen würde, die sie brauchte, um nicht geschlossen zu werden. Es reichte dann gerade mal für eine Klasse, im Jahr drauf kam nicht mal mehr die zustande.

Warum das? Ganz ehrlich: Diese Realschule machte an dem Abend einen reichlich gerupften Eindruck. Das lag überhaupt nicht an den Lehrern, die engagiert für ihre Schule warben. Aber man merkte der Schule einfach an, dass sie seit Jahren stiefmütterlich behandelt wurde. Es gibt sicher viele Gründe, warum in Tübingen die Realschule ein Auslaufmodell ist. Ein Grund aber war zweifellos die Euphorie vieler Entscheidungsträger – und Geldgeber – im Bildungsbereich für die neue Schulform „Gemeinschaftsschule“.

Diese Euphorie wurde (und wird) nicht von allen Eltern geteilt. Manche trauen der neuen Schulform nicht zu, dass sie ihren Kindern das nötige Rüstzeug für deren berufliche Zukunft mitgeben kann. Und manche können sich einfach nicht mit dem Ganztagsbetrieb der Gemeinschaftsschule anfreunden. Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass sich das im Laufe der Jahre ändern wird und die Gemeinschaftsschule genauso angenommen werden wird wie die altbekannten Schulen.

Aber: An der nicht enden wollenden Diskussion um acht oder neun Jahre Gymnasium kann man sehen, wie aussichtsreich solches Zuwarten ist. Auch nach fast 15 Jahren G8 wünschen sich viele Eltern immer noch die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. In Bayern wurde es gerade wieder eingeführt. Offensichtlich hat dieses Schulmodell viele Eltern einfach nicht überzeugt.

Eltern neigen nicht zu Experimentierfreude bei der Schulkarriere ihrer Kinder. Und seitdem die Grundschulempfehlung nicht mehr verpflichtend ist, sind die Anmeldezahlen an den weiterführenden Schulen im wesentlichen elterngetrieben. Da sind dann leider einige Kinder an der falschen Schule: Wer der Gemeinschaftsschule nichts zutraut, meldet schon mal sein Kind ohne entsprechende Empfehlung an einem Gymnasium an. Die hohe Tübinger Übergangsquote von 75 Prozent aufs Gymnasium kommt zum Teil auch daher, dass die Stadt in einer einzigartigen Situation ist: Hier kann man nur zwischen Gymnasium und Gemeinschaftsschule wählen. Das gibt es in ganz Baden-Württemberg mit über 300 Städten nur noch in 14 weiteren Städten – in 14 kleinen Städten wie Meersburg oder Bad Buchau. Die größten der 14 sind Mössingen und Schwetzingen mit gerade mal etwas über 20 000 Einwohnern – also nicht mal ein Viertel von Tübingen.

In Baden-Württemberg gibt es über 500 Realschulen und sie erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Keine andere Stadt in der Größe Tübingens verzichtet auf diese Schulform. Anstatt über ein weiteres Gymnasium nachzudenken, wäre es schön, wenn sich Stadtverwaltung und Gemeinderat ernsthafte Gedanken machen würden über einen Realschul-Neustart hier. Tübingen braucht wirklich keinen weiteren Weg zum Abitur, da haben wir echt schon genug davon.

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Erstellt:
18.07.2018, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 18.07.2018, 01:00 Uhr

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