Putin zum Rücktritt zwingen

Claudia Dathe plädiert für Sanktionen gegen Russland

Claudia Dathe lebte fünf Jahre in der Ukraine und hat Autoren dieses Landes in die deutsche Sprache übersetzt. Gemeinsam mit Schamma Schahadat, Inhaberin des Lehrstuhls für Ostslavische Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen, gründete die 50-jährige Übersetzerin, die viele Freunde in Kyjiw, Lwiw (Lemberg) und Odessa hat, die Online-Veranstaltungsreihe „Lesen für die Ukraine“. Wir sprachen mit ihr über den Krieg in der Ukraine und den Sinn von Sanktionen gegen Russland.

16.03.2022

Claudia Dathe hat viele Freunde in der Ukraine. Die Übersetzerin kennt auch die Literatur des Landes. Privatbild

Claudia Dathe hat viele Freunde in der Ukraine. Die Übersetzerin kennt auch die Literatur des Landes. Privatbild

TAGBLATT ANZEIGER: Wie geht es Ihren Freunden in der Ukraine?

Claudia Dathe: Die Menschen in der Ukraine sind sich bewusst, dass sie von einer hochgerüsteten russischen Armee bedroht und angegriffen werden und leiden unter Todesangst. Die meisten Ukrainer, die ich kenne, machen sich Sorgen um ihre Kinder. Viele von ihnen müssen auch ältere Angehörige versorgen und denken deshalb nicht an Flucht. Es gibt eine massive Fluchtbewegung in den Westen des Landes. Sehr viele Menschen haben sich mittlerweile zur Flucht entschlossen. Aber es gibt auch viele Menschen, die bleiben wollen.

Kennen Sie jemanden, der als Zivilist in der Ukraine kämpft?

Nein, ich kenne niemanden persönlich. Ich kenne einen Autor, der schon 2014 gegen die russische Armee gekämpft hat und jetzt wieder eingezogen wurde. Seither habe ich aber nichts mehr von ihm gehört.

Wie denken Sie über die kämpfenden Zivilisten in der Ukraine?

Für mich ist die Situation eindeutig. Die Ukraine hat sich sehr viele Jahren lang um eine Annäherung an Europa bemüht. Doch die EU ist der Ukraine institutionell keinen Schritt entgegengekommen. Obwohl die Ukraine mit freien Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit wesentliche Punkte eines liberalen Rechtsstaats erfüllt, wurde dem Land von der EU keine Perspektive auf eine Aufnahme geboten. Die Verteidigung des eigenen Landes ist auch eine Verteidigung dieser westlichen Freiheitswerte. Eine Niederlage bedeutet nicht nur den Verlust der Souveränität, sondern eine prinzipielle Niederlage für alle Länder, deren staatliche Ordnung auf bürgerlichen Rechten und Freiheiten beruht, also auch für Deutschland.

Warum wurde die Ukraine nicht längst in die EU aufgenommen?

Dafür gibt es sicherlich viele Gründe. Der Hauptgrund liegt darin, dass sich die westlichen Länder nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sehr wenig mit Osteuropa beschäftigt haben. Man hat zwar Länder wie Polen, Tschechien, Bulgarien und Rumänien in die EU und die NATO aufgenommen. Trotzdem hat sich der Westen kaum dafür interessiert, was in diesen Regionen passiert. Ein weiterer Grund resultiert aus der ökonomischen Situation der Ukraine. Dort fehlt eine hochmoderne Industrie, weshalb die EU das Land finanziell unterstützen müsste. Dieser Aufwand schien lange Zeit zu hoch. Außerdem haben einige Politiker die Ukraine immer der russischen Einflusssphäre zugeschlagen, obwohl das Land seit 2005 eine pro-europäische Entwicklung genommen hat und nicht dem autoritären Kurs Russlands gefolgt ist.

Wie bewerten Sie Putins Behauptung, er wolle die Ukraine befreien?

Das ist Propaganda. In Wirklichkeit will er sein Imperium in den ehemaligen Grenzen der Sowjetunion neu begründen. Diese Formulierungen dienen der Legitimierung des Krieges im eigenen Land. Man sieht an den rücksichtslosen Angriffen und dem brutalen Vorgehen gegen Zivilisten, dass es sich hier nicht um eine Befreiung, sondern um einen Vernichtungskrieg gegen die Ukrainer handelt.

Haben Sie in der Ukraine eine Sprachpolarisierung erlebt?

Die Ukraine ist ein zweisprachiges Land. Das heißt, die meisten Menschen beherrschen sowohl Ukrainisch als auch Russisch. Es gibt Gegenden, in denen nur eine Sprache gesprochen wird. Im Osten und Süden wird mehr Russisch und im Westen mehr Ukrainisch gesprochen. Es gibt sowohl unter russischen als auch unter ukrainischen Muttersprachlern Menschen, die den Wert der Zweisprachigkeit nicht erkennen. Als wir Anfang der 2000er-Jahre einen Band mit deutschen Erzählungen dreisprachig herausbringen wollten, hielt man es in Odessa für unnötig, Ukrainisch einzufügen, die Partner aus Lwiw fanden die russischen Texte unnötig. Mittlerweile dürfte sich die Situation aber geändert haben. Und es ist wichtig zu wissen, dass die gesprochene Muttersprache nichts über die politische Haltung des Sprechers aussagt. Jemand kann Russisch als Muttersprache sprechen und sich trotzdem der Ukraine als Staat zugehörig fühlen. Das ist in einem Land mit einer aktiven Zweisprachigkeit absolut normal.

Wie kann der Krieg in der Ukraine beendet werden?

Für meine eigene Position steht außer Frage, dass wir alles unternehmen müssen, um die Souveränität der Ukraine zu bewahren. Denn wenn es Putin gelingen sollte, die Ukraine zu unterwerfen und als Staat zu vernichten, verlieren wir unsere ganze europäische Nachkriegsordnung. Wir müssen alles Gebotene unternehmen, um Putin zu einem Rücktritt zu bewegen. Wir sind da im Moment schon auf dem richtigen Weg. Wir haben angefangen, Sanktionen zu ergreifen. Ich glaube, es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als das Land zu boykottieren, damit die Menschen vor Ort Putin zu einem Abtreten zwingen. Natürlich ist es auch richtig, den Widerstand gegen Putin und seinen Apparat in Russland selbst zu stärken. Aber da wir so wenig über die Gesellschaft wissen, wissen wir hier kaum, wo wir ansetzen müssen. Die Ukraine kann den Krieg militärisch nicht gewinnen. Er wird nur beendet, wenn der Widerstand dagegen aus Russland selbst kommt.

Welche Möglichkeiten gibt es, den Ukrainern zu helfen?

Wir können die Ukraine weiter mit Demonstrationen unterstützen und uns mit blau-gelben Symbolen mit dem Land solidarisieren. Und wir können mit Geld- und Sachspenden und der Aufnahme von Flüchtlingen praktische Hilfe leisten.

Fragen von Vivian Viacava Galaz

Die Universität Tübingen veranstaltet gemeinsam mit der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder die Reihe „Lesen für die Ukraine“. Jeden Mittwoch werden in Online-Sitzungen von 18 Uhr bis 18.20 Uhr deutsche Übersetzungen ukrainischer Texte aus Gegenwart und Geschichte gelesen. Den Zugangslink gibt es nach Anmeldung unter

slavistik@uni-tuebingen.de