Nicht einfach nur Deko

Das Sgraffito am Hagellocher Rathaus ist von Ugge Bärtle

Am 10. Juni 1956 feierte die Gemeinde Hagelloch die Einweihung ihres neuen Rathauses mit Festgottesdienst und vielen Reden.

05.06.2019

Sgraffito mit Mutter und drei Herren.Bild: Andrea Bachmann

Sgraffito mit Mutter und drei Herren.Bild: Andrea Bachmann

Tags zuvor hatte man den Schul- und Kindergartenkindern des Ortes zum freudigen Anlass Rote Wurst im Wecken und Süßigkeiten spendiert: Indirekt waren sie die größten Nutznießer des neuen Verwaltungsbaus in der Ortsmitte direkt gegenüber der Kirche. Nachdem man nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebene im alten Rathaus untergebracht und dort Wohnungen eingebaut hatte, wurde die Gemeindeverwaltung im Schulhaus einquartiert. Das war auf Dauer eine suboptimale Lösung und deshalb fand der Wunsch von Bürgermeister Waibel nach einem neuen Rathaus 1954 Gehör.

Die Gemeinde kaufte zwei alte Bauernhäuser in der Dorfmitte, riss sie ab und beauftragte den jungen Tübinger Architekten Herbert Salomon und den Kreisbaumeister Zentner mit einem Neubau. Der geriet schlicht und funktional, nur beim Treppenhaus leistete man sich kleine Extravaganzen wie einen Fußboden aus buntem Marmormosaik und einer Treppe aus grauem Granit und grünem Diabas.

160 000 Mark sollte das neue Rathaus die Gemeinde kosten. Für Nachkriegsjahre war das eine stattliche Summe, schon der Bauplatz hatte mit 15 000 Mark zu Buche geschlagen. 125 000 Mark lieh man sich bei der Kreissparkasse, den Rest brachte die Gemeinde aus laufenden Mitteln auf, vor allem aus dem Holzverkauf.

Zur Einweihung stiftete die Gemeinde Bebenhausen den Hagellochern ein wenig Kunst am Bau und beauftragte den Tübinger Bildhauer Ugge Bärtle mit dem Sgraffito, das die Fassade ziert: Dort sieht man eine Frau mit Kopftuch und einem Kind an der Hand, ihr gegenüber stehen drei Herren, zwei im Anzug, einer in weißer Arbeitskleidung. Zu Füßen der Herren sind einige Gebäude zu erkennen, eine Art Skyline von Hagelloch. Der Herr in der Mitte überreicht der Frau etwas, das wie eine Aktenmappe oder ein Dokument aussieht – hier hat sich Bürgermeister Waibel selbst verewigen lassen. Der jüngere Mann in dunklem Anzug, die Hand lässig in der Jackentasche, stellt den Architekten Herbert Salomon dar. Der Arbeiter in Weiß ist ein Gipser. Von denen gab es in Hagelloch eine ganze Menge, außerdem wird hier auf die Fassadendekoration selbst Bezug genommen: Es handelt sich um ein sogenanntes Sgraffito, bei dem zunächst mehrere verschiedenfarbige Putze übereinander aufgetragen und dann die Motive herausgekratzt werden. Nicht nur das Hagellocher Rathaus ziert eine solche Sgrafitto-Fassade, sondern auch das Rathaus auf dem Tübinger Marktplatz, wo diese Technik in besonderer Meisterschaft bewundert werden kann. In den 1950er-Jahren waren Sgraffito große Mode, die Hagellocher waren hier wirklich am Puls der Zeit.

Das Relief war nicht einfach nur Deko, sondern sollte die wichtigste Funktion eines Rathauses symbolisieren: die einer Kontaktstelle zwischen Bürgern und Verwaltung.

Menschen sind ein wesentlicher Bestandteil des Themenkreises von Ugge Bärtle, der zehn Jahre später für die Gemeinde Hagelloch auch ein Mahnmal bei der Kirche gestaltete, das ebenfalls eine Mutter mit ihrem Kind darstellt. Der Tübinger Künstler hatte in München studiert, um dann wieder nach Tübingen zurück zu kehren, wo er sich als freier Bildhauer niederließ. Nach dem Zweiten Weltkrieg, währenddessen er im bretonischen Saint-Nazaire in Kriegsgefangenschaft geriet, und einem mehrjährigen Aufenthalt in Hamburg bezog er mit seiner Familie ein Haus auf dem Tübinger Föhrberg. Dessen Garten ist heute ein Open-Air-Skulpturenmuseum. Bärtles vielseitiges und vielschichtiges Werk nimmt einen soliden Platz in der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts ein. Nicht nur in Hagelloch. Andrea Bachmann

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Erstellt:
05.06.2019, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 05.06.2019, 01:00 Uhr

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