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Den Hirnzellen auf die Sprünge helfen

Eine Heilung für die Alzheimer-Demenz gibt es nicht. Eine neuartige Therapie scheint aber erstaunliche Linderung der Symptome zu bringen.

27.11.2021

Von Yasemin Gürtanyel

Licht am Ende des Tunnels? Alzheimer zerstört Hirnzellen – womöglich erholen sie sich durch Stoßwellen bis zu einem gewissen Grad.

Licht am Ende des Tunnels? Alzheimer zerstört Hirnzellen – womöglich erholen sie sich durch Stoßwellen bis zu einem gewissen Grad.

Gesundheit. Ich fühle mich wieder freier im Kopf.“ Mit diesen Worten beschreibt eine an Alzheimer-Demenz erkrankte Frau ihr Gefühl nach der Behandlung mit Stoßwellen, erzählt Ulrich Hannemann, Facharzt für Orthopädie, der eine private Praxis in Albstadt auf der Schwäbischen Alb führt. Auch der Sohn bemerkt eine Veränderung an seiner Mutter: Sie nehme wieder mehr an zwischenmenschlichen Interaktionen teil, berichtet er. Die Therapie, die seit etwa einem Jahr zugelassen ist, zeige also Wirkung, auch wenn Alzheimer nach wie vor nicht geheilt werden kann, wie Hannemann betont.

Nun kann man sich wundern, wie ein Orthopäde dazu kommt, eine neurologische Krankheit wie Alzheimer zu behandeln, sagt Hannemann und lacht. „Das liegt daran, dass Stoßwellen einfach eine tolle Sache sind.“ Wie genau die Wellen bei Morbus Alzheimer wirken, ist dabei gar nicht so klar. Nur, dass sie  helfen.

Zunächst, Anfang der 1980er Jahre, setzte man in der Medizin auf die zerstörerische Kraft der Druckwellen: Man benutzte sie, um Nieren- und Blasensteine zu zertrümmern. Ein Arzt bemerkte, dass die Knochen, die bei der Therapie durchdrungen wurden, stärker wuchsen und dicker wurden. Eine erstaunliche Beobachtung. Was passierte da? Die naheliegendste Erklärung – dass die Wellen das Knochengewebe verletzten und so zum Wachsen anregten – erwies sich als falsch. „Offenbar lösen die Stoßwellen komplexe biochemische Reaktionen in den Zellen aus“, erklärt Hannemann. Diese sind sowohl in der Lage, Entzündungen zu hemmen als auch das Wachstum anzuregen. Ob Kalkschulter, Karpaltunnelsyndrom, Tennisarm, oder andere orthopädische Erkrankungen – schickt man Stoßwellen durch das betroffene Körperteil, bessern sich meist die Symptome. Auch Knochenbrüche heilen mit Stoßwellenbehandlung schneller.

Je früher, desto besser

Alzheimer allerdings ist eine andere Nummer: Immerhin werden  Hirnzellen zerstört, und zwar nach bisherigem Erkenntnisstand irreparabel. Warum genau, ist unklar. Bestimmte Eiweißablagerungen an und in den Nervenzellen spielen offenbar eine Rolle. Sie zerstören die Verbindungen zwischen den Zellen und letztlich diese selbst, das Gehirn schrumpft. Der Versuch, diese Ablagerungen zu zerstören, heilt Alzheimer allerdings nicht. Schickt man aber Stoßwellen durch das Gehirn, scheinen sich Nervenzellen oder Synapsen bis zu einem gewissen Grad zu regenerieren. „Was genau passiert, wissen wir aber nicht“, sagt Hannemann.

Ist dieser Zerstörungsvorgang bereits sehr weit fortgeschritten, helfen auch die Stoßwellen kaum mehr, räumt er ein. „Die besten Erfolge haben wir bei leichten bis mittelschweren Stadien von Alzheimer.“ Je früher man die Krankheit erkennt und mit der Behandlung beginnen kann, desto besser schlägt die Therapie, die Transkranielle Pulsstimulation, an. Patienten zeigten eine deutlich bessere Gedächtnisleistung und fühlen sich auch körperlich und seelisch wohler – wie die eingangs beschriebene Frau.

Erwähnenswerte Nebenwirkungen zeige die Therapie nicht. „Und es tut auch nicht weh“, sagt Hannemann. Man müsse lediglich etwa eine halbe Stunde lang ruhig sitzen, damit die Wellen ihre Wirkung entfalten können. Allerdings lässt diese nach einiger Zeit wieder nach, was eine Auffrischung der Therapie nötig macht.

Das wäre im Grunde nicht schlimm. Aber die Krankenkassen, weder private noch gesetzliche, übernehmen die Behandlungskosten momentan nicht. Da eine Stoßwellenbehandlung nicht billig ist, können sich zum jetzigen Zeitpunkt wohl nur betuchte Menschen eine Behandlung mit den empfohlenen Auffrischungen im Abstand von vier bis sechs Wochen leisten.

Therapie ist teuer

Das Problem sieht auch Hannemann. Bis die Krankenkassen die Kosten übernehmen, werden Jahre ins Land ziehen, schätzt er. „Es hat ja auch 20 Jahre gedauert, bis sie die Kosten für den Fersensporn mit Stoßwellen übernommen haben.“ Bis eine neue Therapie in den Leistungskatalog der Kassen aufgenommen wird, dauert es aus bürokratischen meist lange.

Das ist bitter, sagt Hannemann: Man weiß, dass einem selbst oder einem Angehörigen geholfen werden könnte, kann sich die Behandlung aber nicht leisten. Immerhin könne man bei der Alzheimer-Behandlung die Abstände zwischen den Auffrischungen seiner Einschätzung nach wohl auf etwa drei Monate verlängern. So lange seien zumindest durch die Stoßwellentherapie ausgelösten Gewebsfaktoren bei orthopädischen Erkrankungen im Blut nachweisbar. Nicht zu empfehlen sei aber, zu warten, bis man eine deutliche Verschlechterung des Zustands bemerke. „Dann kann man die Funktionsverluste nicht mehr rückgängig machen.“

Ursprung im Militär

Stoßwellen sind Druckwellen, die eine im Vergleich zu Ultraschallwellen große Amplitude aufweisen. Auf ihre Tauglichkeit in der Medizin ist man durch Zufall gestoßen. Im Zuge der „Starfighter Affäre in den 1960er Jahren wurde untersucht, warum so viele der Militärflugzeuge abstürzen. Die Firma Dornier, die Teile des Fliegers herstellte, erkannte, dass teils Stoßwellen verantwortlich waren: Wenn das Flugzeug mit Überschall in Regenwolken flog, wurden die Tröpfchen durch den Überschallknall, der physikalisch einer Stoßwelle entspricht, stark beschleunigt – was den Flieger beschädigte. Ein kluger Kopf bei Dornier kam auf die Idee, dass sich so auch Nierensteine zerstören lassen.

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Erstellt:
27.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 25sec
zuletzt aktualisiert: 27.11.2021, 06:00 Uhr

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