Unter dem Pflaster

Der Archäologische Stadtkataster Tübingen liefert neue Erkenntnisse zur Geschichte der Neckarstadt

31.10.2018

Die drei Autoren des Tübinger archäologischen Stadtkatasters: Sören Frommer, Birgit Kulessa und Alois Schneider (von links nach rechts). Bild: Andrea Bachmann

Die drei Autoren des Tübinger archäologischen Stadtkatasters: Sören Frommer, Birgit Kulessa und Alois Schneider (von links nach rechts). Bild: Andrea Bachmann

Tübingen. „Da werden wir eine Menge neu lernen müssen“, meinte eine Tübinger Gästeführerin angesichts der beiden dicken und schweren Bände, in denen die Archäologen Birgit Kulessa, Alois Schneider und Sören Frommer die „unterirdische Stadtgeschichte“ von Tübingen erzählen. In fünfjähriger Kleinarbeit haben sie im Auftrag des Landesamts für Denkmalpflege archäologische Funde, historische Urkunden, alte Stadtansichten, Karten, Pläne und kommunale Bauakten durchforstet und so ein möglichst umfassendes Bild von allen Geschichtsdenkmälern der Stadt erstellt, die kaum jemand je zu Gesicht bekommt, weil sie alle unter der Erde liegen. Das sind in der Tübinger Altstadt, die nur 600 Meter lang und 400 Meter breit ist, eine ganze Menge.

„Das Zusammenführen vieler kleiner Quellen und Grabungen war toll. Das hat auch noch nie jemand gemacht“, freut sich Sören Frommer über das ungewöhnliche Projekt.

Eine solche Auflistung aller Areale, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass man etwas findet, was für die Geschichte der Stadt von Bedeutung ist, wenn man den Boden aufgräbt, nennt man einen archäologischen Kataster. Das Landesamt für Denkmalpflege in Baden-Württemberg hat solche Kataster bislang für 40 Städte anfertigen lassen. Sie bieten den Gemeinden wichtige Informationen für die Stadtentwicklung. Denkmalpflege und Stadterneuerung können so besser aufeinander abgestimmt werden. „Nachhaltige Stadtentwicklung bedeutet auch, Menschen eine Heimat zu bieten. Die historischen Gebäude einer Stadt schaffen Vertrautheit und Identität“, erklärt der Präsident des Landesamts für Denkmalpflege, Claus Wolf.

Unter dem Pflaster der Tübinger Altstadt liegt also nicht der Strand, sondern die Geschichte der Stadt. 185 archäologische Fundstellen haben die drei Archäologen für den Kataster ausgewertet. „Eine archäologische Quelle spricht aber leider nicht von selbst, die muss erst erschlossen und so zum Erzählen gebracht werden“, meint Sören Frommer. So lässt das reichhaltige archäologische Material, das aus der Zeit vor dem großen Stadtbrand von 1280 stammt, den Schluss zu, dass die Tübinger über einen beträchtlichen Wohlstand verfügten. Die Art der Ofenkacheln und Dachziegeln spricht für eine aufstrebende, wohlhabende Stadt. Nach dem verheerenden Brand, von dem man erst seit wenigen Jahren weiß, wo er stattgefunden hat, baut man die Stadt schnell wieder auf. Aber nicht mehr so schön wie vorher – die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Tübinger Pfalzgrafen machten aus Tübingen wieder ein gewöhnliches Landstädtchen.

Auf historischen Stadtansichten kann man sehen, was Tübingen vor 500 Jahren ausmachte: eine repräsentative Topographie, eine reizvolle Lage und die Universität. Im 17. Jahrhundert gibt es die ersten Bilder von Neubauten, das Collegium illustre, die exklusive Tübinger Adelsakademie, hat eine regelrechte Werbebroschüre herausgegeben. Auch Grund- und Aufrisse und Pläne von Architekten und Bauunternehmern sind wichtig für solch einen Kataster, erlauben sie doch die Rekonstruktion von baulichen Veränderungen.

Birgit Kulessa hat vor allem an einem Katalog historischer Topographie gearbeitet. Auf besonderen Stadtplänen werden bestimmte Funktionen der Stadt erfasst. Besonders aufschlussreich ist die sogenannte Kellerkarte: Auf ihr sind alle Tübinger Keller nach Lage und Tiefe verzeichnet.

Bei der Auswertung der unzähligen Quellen und der unermüdlichen Archivrecherche konnten die drei Wissenschaftler, die vom Tübinger Stadtarchiv tatkräftig unterstützt wurden, viele neue Erkenntnisse zur Tübinger Stadtgeschichte gewinnen. „Da waren ein paar echte Überraschungseier dabei“, berichtet Sören Frommer.

Herausgekommen ist dabei nicht nur ein Arbeitsinstrument für Denkmalpfleger und Städtebauer, sondern ein riesiger, schöner Schmöker voller Bilder und Geschichten zur Geschichte von Tübingen, der den Blick in das Verborgene und Unbekannte der Stadt lenkt. Andrea Bachmann

Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg 41: Tübingen. Von Alois Schneider, Sören Frommer und Birgit Kulessa,
2 Bände, 384 und 365 Seiten mit 194 und 129 Abbildungen,
6 Kartenbeilagen, 49 Euro.

Der Stadtkataster kann über das Stadtarchiv bezogen werden.

Eine Stadtansicht Tübingens aus dem Jahr 1683 von Norden her betrachtet – aus den Ortsansichten des Forstkartenwerks von Andreas Kieser. Bild: Archäologischer Stadtkataster Tübingen

Eine Stadtansicht Tübingens aus dem Jahr 1683 von Norden her betrachtet – aus den Ortsansichten des Forstkartenwerks von Andreas Kieser. Bild: Archäologischer Stadtkataster Tübingen