Gleichberechtigung statt gendern

Der Linguist Gerd Simon findet Sprachpflege gefährlich

03.08.2022

Gerd Simon war lange Jahre am Deutschen Seminar der Uni Tübingen. Bild: Angelika Brieschke

Gerd Simon war lange Jahre am Deutschen Seminar der Uni Tübingen. Bild: Angelika Brieschke

Ich habe ein buntes Interesse und mein Motivationspegel ist niedrig“, sagt Gerd Simon beim gut zweistündigen Gespräch in seiner Nehrener Wohnung. Das stimmt – bei der vergnüglichen Unterhaltung ging es kreuz und quer durch die deutsche Sprache, durch Wissenschaftsgeschichte, Gleichberechtigung, deutsche Philosophen, Nationalsozialismus und Tätergeschichte.

Der Besuch bei dem Linguisten und Sprachphilosophen, der jahrzehntelang am Deutschen Seminar der Universität Tübingen lehrte, kam zu Stande, weil Gerd Simon einen Artikel über Gender-Sternchen im TAGBLATT ANZEIGER nicht unkommentiert lassen wollte.

Herr Simon, was halten Sie von Gender-Sternchen und anderen Konstruktionen,

mit denen versucht wird, die deutsche Sprache geschlechtergerecht zu machen?

Gerd Simon: Vorneweg: Sprache ist für mich nicht der wichtigste Gegenstand in unserer Gesellschaft. Manche meiner Kollegen sehen das zwar so, aber Sprache ist für mich eher unbedeutend. Wichtiger scheint mir demgegenüber zum Beispiel das Geld.

Aber deswegen ist Sprache doch nicht unwichtig. Die Idee hinter den Forderungen der Feministinnen ist ja, dass Sprache das Bewusstsein beeinflusst und wenn in der deutschen Sprache die männliche Form dominiert, dann zwangsläufig auch das Männliche das Bewusstsein der ganzen Gesellschaft. Das

wollen sie ändern.

Vielleicht hilft ein Vergleich. Ich gehöre zu den wenigen Sprachwissenschaftlern, die sich energisch gegen Rechtschreibreformen geäußert haben. Ich warf deren Befürwortern Nebensachenwahn und Normierungswut vor. Die Vertreter einer „gendergerechten“ Sprache leiden meiner Meinung nach an den gleichen Bedeutungskrankheiten. Ich urteile hier als Wissenschaftler: Beides, Rechtschreibreform und Genderregel verdanken sich einem wissenschaftstheoretischen Fehlverhalten. Beides ist wissenschaftlich nicht haltbar. Das gilt auch, wenn man das genderübergreifend verallgemeinern würde. Die Schreibung meines Familienstands „Witwe*r“ ist ebenso wenig vertretbar wie die von Luthers Übersetzung „Männin“ für Adams Eva, die sich glücklicherweise nicht durchgesetzt hat.

Wie das Verhältnis zwischen Sprache, Bewusstsein und Gesellschaft zu bestimmen ist, ist in der Wissenschaft umstritten. Alle drei Größen existieren sicher nicht isoliert, aber so sicher es ist, dass sie irgendwie miteinander verbunden sind, haben sie auch ihre Eigenarten. Vor allem kann man nicht davon ausgehen, dass etwa die Sprache das Bewusstsein oder gar die Gesellschaft dominiert.

Sprache ist sicher nur über die lange Bank bewusst veränderbar. Es spricht jedenfalls vieles dafür, dass kurzfristige Änderungen in den meisten Fällen auch kurzfristig wieder verschwinden, dabei betrifft das weitgehend nur einzelne Wörter, weniger schon die grammatischen Regeln. Am wenigsten änderbar sind Zusammensetzungsregeln.

Die Sprachgeschichte zeigt: Man kann neue Sprachen entwickeln, Hochsprachen oder zum Beispiel das Esperanto, das übrigens den Forderungen der Feministinnen am ausnahmslosesten entspricht. Für bestehende Sprachen aber gilt: Es ist hoffnungslos, die Sprache durch staatliche Eingriffe verbessern zu wollen. Sprachpflege gibt es, bedingt durch das Missverständnis, hier handle es sich um einen Organismus, schon seit dem 17. Jahrhundert. Zu der Zeit ging es um Reinigung der Sprache von Fremdwörtern, um die Fremdwörterjagd. Da ist alles Fremdsprachliche eingedeutscht worden. Aus Nase – das ist ein Lehnwort aus dem Lateinischen – wurde Gesichtserker.

Das klingt für uns jetzt lustig. Aber es gibt einen Zusammenhang zwischen Fremdwörterjagd und Fremdenfeindlichkeit. Das wurde bis nach dem 2. Weltkrieg unhinterfragt als selbstverständlich akzeptiert. Kritik kam überraschenderweise von Goebbels [Reichspropagandaleiter im Nationalsozialismus, A.B.]. Als studierter Germanist kannte er sich leidlich auch in der Geschichte der Sprachpflege aus, gebrauchte und erfand allerdings viele Fremdwörter und lehnte die Sprachpflege deswegen rundweg ab. 1943, als das Kriegsglück der Deutschen nachließ, wurde er allerdings inkonsequent und verbot Wörter wie „Katastrophe“, wahrscheinlich aus ähnlichen Motiven wie heute Putin, der seinen Russen verbot, für seinen Überfall auf die Ukraine das Wort „Krieg“ zu gebrauchen.

Sprachpfleger geben sich durchweg als Verehrer der deutschen Sprache aus. Sie haben aber keine Hemmungen, auch allgemein anerkannten Meistern der deutschen Sprache, sogar Dichtern, ins Mundwerk zu pfuschen, manche sogar wegen ihres Fremdwortgebrauchs Sprachschänder zu nennen.

Sprachen sind mit der Menschheit gewachsen. Logik spielte anfangs in ihr keine Rolle, später vor allem in der Fachsprache. Sprache kann man natürlich versuchen zu ändern. Langfristig wirksam sind solche Änderungsversuche, selbst wenn sie von Regierungen verordnet werden, nur in Einzelfällen, nahezu nie grundsätzlich.

Sehen Sie das auch so für die Änderungsvorschläge der Frauensprachforscherinnen?

Durchaus. Ich sehe da auch frauenpolitische Gefahren. Frauenforscher schaden ihrem eigenen Anliegen, indem sie das Problem der Gleichberechtigung ablenken auf die Ebene der Sprache. Man verschiebt ein gesellschaftlich wichtiges Problem und glaubt, dieses auf einer scheinbar problemlosen Ebene lösen zu können. Aber durch Sprachveränderungen löst man kein einziges zentrales Problem jedenfalls gesellschaftlicher Art.

Durch die Verschiebung der Gleichberechtigungsfrage auf die Ebene der Sprache macht frau es auch den Gegnern der Gleichberechtigung leicht, ihre Argumente Richtung Abwegigkeit in einer Sackgasse rotieren zu lassen. Das Problem bei der Forderung nach gendergerechter Sprache ist, dass wir auf diese Weise das Wichtigste aus dem Blick verlieren. Nämlich, uns um Gleichberechtigung im Konkreten zu kümmern.

Aber ich habe mich schon vor sehr langer Zeit, in den 1970er-Jahren, bei der Gründerin der Frauensprachforschung, Luise Pusch, mit meinen Argumenten unbeliebt gemacht. Für mich wirkt vieles in der Frauensprachforschung über weite Strecken wie Fundamentalismus, der sich durch Dialoge und Argumente nicht beeindrucken lässt.

Es gibt außerdem auch in der Sprachwissenschaft Bedeutenderes. Dazu rechne ich die Verstehensforschung, die etwa zu ermitteln sucht, welche kommunikative Reichweite ein sprachliches Phänomen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Situationen hatte und noch hat.

Was ist dann ein interessantes Forschungsgebiet für Sie?

Ich war immer Wissenschaftler mit interdisziplinären Interessen, schon als Schüler. Mein Motivationspegel ist niedrig.

Ursprünglich wollte ich Kunstmaler werden. Das scheiterte an der Kostenfrage. Also habe ich eine Fülle von Wissenschaften studiert – Germanistik, Philosophie, Theologie und Pädagogik, aber auch ohne Abschluss andere Fächer vor allem Mathematik, Geschichte und Anglistik. Eigentlich sind die Grenzen der Fächer ein Riesenproblem unserer Universitäten, nicht nur weil die sich nicht austauschen untereinander. Bei meiner Arbeit am Deutschen Seminar in Tübingen habe ich immer versucht, fächerübergreifend tätig zu sein. Seit 1980 interessiere ich mich zentral für Geschichte, besonders für Wissenschaftsgeschichte und da ganz besonders für die Zeit im Nationalsozialismus.

Bei Archivrecherchen stieß ich 1990 auf den Namen des in Nehren geborenen Sprachphilosophen Hans Vaihinger, einem zu seiner Zeit weltberühmten Philosophen, der später tot geschwiegen wurde. Es wird übrigens eine Ausstellung über Hans Vaihinger am 25. September hier in Nehren im Rathaus eröffnet. Die wollten wir vor zwei Jahren machen und mussten sie dann verschieben wegen Corona.

Fragen von Angelika Brieschke

Hans Vaihinger (1852-1933), in Nehren geboren, war zu seiner Zeit ein weltberühmter Philosoph. Am 25. September wird in Nehren eine Ausstellung über ihn eröffnet. Archivbild: CHC Geiselhart

Hans Vaihinger (1852-1933), in Nehren geboren, war zu seiner Zeit ein weltberühmter Philosoph. Am 25. September wird in Nehren eine Ausstellung über ihn eröffnet. Archivbild: CHC Geiselhart