Blaue Flecken auf der Seele

Der Reutlinger/Tübinger Verein „Miteinander“ kümmert sich um Trauma-Opfer

04.10.2018

Die Hoffnung vieler Trauma-Opfer: Am Ende des Tunnels wird’s schöner.Archivbild: Meinhardt

Die Hoffnung vieler Trauma-Opfer: Am Ende des Tunnels wird’s schöner.Archivbild: Meinhardt

Kreis Tübingen. „Traumatische Erlebnisse kann man weder ungeschehen machen noch aus der Erinnerung löschen. Aber man kann trainieren, damit leben zu können“, sagt Erika Roth. Die Vorsitzende und Mitbegründerin des Vereins „Miteinander. Menschen mit Trauma e.V. Reutlingen / Tübingen“ weiß, wovon sie redet. Und sie weiß auch, dass es traumatisierte Menschen stärkt, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Dies kann man in der Selbsthilfegruppe „Trauma“ des Vereins tun.

Für Nicht-Betroffene ist es manchmal schwer zu verstehen, warum traumatisierte Personen Ängste haben oder manche Dinge einfach nicht tun können“, sagt Erika Roth. Sie selbst könne beispielsweise weder Kaffee noch Tee oder Suppe zu sich nehmen. „Eigentlich ist mir jedes Essen zu heiß.“ Als Kind ist sie durch kochendes Wasser schwer verbrüht worden. „Wenn ich heute Heißes zu mir nehme, spüre ich sogar den Schmerz wieder, der Jahrzehnte zurückliegt.“

Viele Menschen merkten erst viel später, dass sie traumatisiert seien. „Auch Kinder, die missbraucht wurden, werden oft erst als Erwachsene davon eingeholt“, sagt Roth. Es könne eine Kleinigkeit sein, etwa ein Geräusch, ein Geruch, eine Bemerkung oder ein Film, der auf einmal das Unterbewusstsein erreiche und die Situation von damals wieder nach oben hole. „Dann rutscht man in einen Zustand, in dem Panikattacken entstehen. Manchmal ist man zwar körperlich anwesend, aber die Umgebung wird plötzlich fremd. Man weiß nicht mehr, wo man ist. Die Menschen um einen herum werden zu Schatten.“ Manchmal durchlebe man die damalige Situation in einem sogenannten Flashback erneut.

„Es ist wichtig, dass der Betroffene sich sofort Hilfe holt.“ Doch Ärzte für Traumatherapien sind dünn gesät. Der Verein hat einige auf seiner Homepage aufgelistet, dazu Bücher und weiteres Hilfsmaterial. Er vermittelt auch in eine traumaspezifische Gruppentherapie unter Leitung einer Ärztin. „Hier werden Schutzmechanismen sowie Angst- und Alltagsbewältigung geübt.“ Häufig sei es schon hilfreich, zu erfahren, dass man mit seinen Problemen nicht alleine ist und dass sie eine Ursache haben. „Menschen mit einer Traumatisierung haben oft Schwierigkeiten, sich in der Welt zurecht zu finden“, sagt Roth. „Sie haben kein Vertrauen und kein Selbstwertgefühl, ziehen sich zurück, zeigen Suchtverhalten und Selbstverletzung oder Schuld- und Schamgefühle.“ Oft erführen sie sich einfach als „anders“.

„Ein Trauma geht in der Regel mit Todesangst einher. Die Psyche wird durch schreckliche Erlebnisse so schwer erschüttert, dass sie sie nicht mehr verarbeiten kann und sie wegdrückt, damit man überhaupt in der Lage ist, weiter zu leben.“ Dazu zählt die Vorsitzende auch das Verhalten von Eltern, die ihren Kindern vermittelten: „Du bist nur etwas wert, wenn Du etwas leistest.“ Diese Art von Missbrauch bleibe häufig verborgen, denn: „Die blauen Flecken auf der Seele sieht keiner.“

Der Verlust eines nahen Angehörigen, ein Autounfall, Mobbing, schwere Erkrankungen, körperlicher Missbrauch – all das könne ein Trauma auslösen. „Dabei kommt es noch darauf an, ob es ein einmaliges Erlebnis ist oder über Jahre und Jahrzehnte stattfindet.“

Der Verein besteht seit November 2011. „Vorher waren wir eine Gruppe von Betroffenen und wurden von einer Ärztin betreut. Abgerechnet wurde über die Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik.“ Doch dann sei die Kassenleistung nicht mehr möglich gewesen. Es kam zur Gründung des Vereins mit derzeit 20 Mitgliedern, der Therapien über Mitgliedsbeiträge und Spenden ganz oder teilweise finanziert. „Bei aktuellen Trauma-Ereignissen funktioniert es mit Betreuung und Therapie in der Regel sehr gut. Aber bei älteren Fällen, die teilweise sogar in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückreichen, muss man erst beweisen, was passiert ist.“ Der Vereinsbeitrag ist mit 40 Euro pro Jahr extra gering gehalten, weil viele Traumaopfer nicht mehr arbeiten können und auf Hartz-IV-Basis leben. Die Gruppentherapie, die wöchentlich in Blöcken von 1,5 Stunden stattfindet, kostet 30 Euro pro Monat und wird vom Verein bezuschusst. Im Moment gibt es eine Warteliste.

„Es hilft auch schon, wenn andere zuhören, wenn man von seinen Beschwerden erzählt“, berichtet Erika Roth. Was von Außenstehenden als „komisch“ bewertet werde, wie beim Duschen Schmerzen zu empfinden oder die Unfähigkeit, das Haus zu verlassen, werde in der Gruppe als Folge einer Traumatisierung ernst genommen. Über das Trauma selbst werde jedoch nicht gesprochen, um ein erneutes Durchleiden zu vermeiden. „Es geht darum, im Alltag möglichst gut klarzukommen.“

Voraussetzung sei jedoch, dass man sich helfen lassen wolle. Beispielsweise organisiert der Verein Wendo-Kurse für Selbstschutz und Selbstbehauptung für Frauen und Mädchen. Gabriele Böhm

Am 12. Oktober findet um 19 Uhr im Spitalhofsaal in Reutlingen ein Benefizkonzert zugunsten des Vereins statt.

Infos zum Verein gibt es im Internet unter www.mit-einander.

Ausschließlich für Jungen und Männer gibt es die Beratungsstelle „Pfunzkerle“ in Tübingen

Telefon: 0 70 71 / 7 91 11 01

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Erstellt:
04.10.2018, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 04.10.2018, 01:00 Uhr

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