Mit der Hilfe Gottes

Der Rottenburger Ludwig Hiller überlebte die Hirsch-Katastrophe in Nagold Anfang April 1906.

31.03.2021

Er war einer der Überlebenden der Hirsch-Katastrophe von Nagold am 5. April 1906: Ludwig Hiller betrieb in Rottenburg den Gasthof Ritter in der Seebronner Straße. Bilder: Arndt Spieth

Er war einer der Überlebenden der Hirsch-Katastrophe von Nagold am 5. April 1906: Ludwig Hiller betrieb in Rottenburg den Gasthof Ritter in der Seebronner Straße. Bilder: Arndt Spieth

Häuser die an Wolken kratzten, Fliegende Schiffe, Fotos die plötzlich das Laufen erlernten und sich in spannende Filme verwandelten: Vom Fortschrittswahn elektrisierte Massen erhoben technische Sensationen zum Volkssport – je schriller, desto besser.

Ende des 19. Jahrhunderts rollte der Fortschritt wie eine Dampfwalze durch die westliche Welt, ständig neue Erfindungen revolutionierten die Arbeitswelt, den Alltag, das Leben überhaupt. Telefon, Autos, Luftschiffe – überall brach sich die Technisierung Bahn und schon Jahre zuvor hatte man begonnen, die komplette Innenstadt Chicagos anzuheben. Die Gier nach dem scheinbar kaum Machbaren riss auch die Menschen in unserer Gegend in ihren Bann und man begann auch hier Häuser zu heben, zu drehen und zu versetzen.

Ein Studium der Familienbibel meiner Tante erzählt eindringlich davon, dass diese menschliche Selbstüberschätzung nicht nur bei der Titanic tragisch enden konnte: Der aus Bondorf stammende Ludwig „Louis“ Hiller betrieb mit seiner Frau Mathilde Bühler aus Reusten in Rottenburg den Gasthof Ritter nebst einer Brauerei. Der Hirschwirt in Nagold hatte für den 5. April 1906 die Anhebung seines Gasthofes geplant und dazu auch Gastwirte aus der ganzen Gegend eingeladen. Viele fanden die Vorstellung von höheren Gasträumen faszinierend und hatten wohl schon ähnliche Planungen im Kopf. Mit dabei waren Ludwig Hiller mit seinen Brüdern Wilhelm und Karl und seinem Vetter Jacob Wegenast aus Nellingsheim. Und auch die evangelische Pfarrfamilie Riedinger aus Rottenburg, die mit den ebenfalls evangelischen Hillers befreundet waren, saßen mit am Gasthaustisch im Nagolder Hirsch.

Der Auftrag für die Anhebung war an Erasmus Rückgauer erteilt worden, ein bekannter Bauunternehmer, der sich auf das Versetzen von Gebäuden spezialisiert hatte. Anfänglich bedienten etwa 45 eingewiesene Arbeiter die Winden, um den Hirsch in die Höhe zu schrauben. Bald kam es zur spontanen Beteiligung von Mitgliedern des Turnvereins, des Liederkranzes sowie von Passanten. So machten sich bald um die 100 Personen an den Kurbeln zu schaffen und das Vorhaben geriet mehr und mehr außer Kontrolle: Es führte schnell zu einer ungleichmäßigen Hebung des Gebäudes.

Immer mehr Schaulustige scharten sich um dieses spektakuläre Ereignis und das ganze entwickelte den Charakter eines Volksfestes. Zudem blieb der Wirtshausbetrieb im ersten Stock auch während der Hebung in vollem Gange. Ganz Verwegene stiegen sogar über eine Nottreppe in den oberen Stock, um sich mitsamt dem Gasthaus in die Höhe hieven zu lassen.

Während der Anhebung geriet der Bau immer mehr in Schieflage – und es gab einen Knall. Risse taten sich auf. Trotzdem kam man offensichtlich nicht auf die Idee, das Gebäude räumen zu lassen. Das Vertrauen in die neue Technik war wie bei der Titanic wohl grenzenlos. Nach einigen Stunden der Belastung kam der losgelöste Hirsch ins Trudeln und sackte schließlich trichterartig in sich zusammen: Dabei kamen über 50 Personen ums Leben, rund hundert Verletzte brüllten um Hilfe.

Meine Tante schrieb in die Familienbibel, dass ihr Vater Ludwig Hiller „mit der Hilfe Gottes“ nach zweieinhalb Stunden mit einem Armbruch aus den Trümmern geborgen wurde. Sein Vetter Jacob und Pfarrer Karl Riedinger mit seinem Töchterchen Martha kamen beim Einsturz ums Leben. Die Brüder Wilhelm und Karl sowie die Frau des Pfarrers wurden „vom Tode errettet“, hatten allerdings laut Eintrag schwere innere Verletzungen. Nach der Tragödie wurden die Opfer im Rathaus aufgebahrt und Nagold wurde danach zum Ziel von Katastrophentouristen, die sich den Schauplatz von dem „Weltereignis“ nicht entgehen lassen wollten.

Der Bauunternehmer Erasmus Rückgauer wurde zu sechs Monaten Gefängnisstrafe verurteilt. Schwer leberkrank verstarb der nach dem Unglück völlig gebrochene Mann, ehe er seine Strafe antreten musste.

Vom Hirsch in Nagold blieb kein Stein mehr auf dem anderen und auch der Ritter in der Seebronner Straße in Rottenburg wurde inzwischen abgebrochen. Im Nachfolgebau befindet sich jetzt die Römerapotheke. Nur die Hiller-Brauereigebäude existieren noch und bilden heute das Refugium der Rottenburger Narrenzunft. Arndt Spieth

Arndt Spieth, der Autor dieses Beitrags über das Unglück in Nagold im Jahr 1906, hat in der Familienbibel seiner Tante geblättert und ist dabei auf diese Geschichte gestoßen: Ludwig Hiller, der das Unglück überlebte, war Arndt Spieths Urgroßonkel.

Eintrag zur Hirsch-Katastrophe in der Bibel der Familie Hiller.

Eintrag zur Hirsch-Katastrophe in der Bibel der Familie Hiller.