Der Kultlauf lebt – trotz Corona

Der Tübinger Nikolauslauf hat eine lange Geschichte, auch 2020 findet er statt

Es war der 5. Dezember 1976, an dem zum ersten Mal der Tübinger Nikolauslauf, ein Halbmarathon über 21,095 Kilometer gestartet wurde – mit gerade mal 24 Läufern an der Startlinie.

11.11.2020

Der Probelauf auf der Originalstrecke geht auf dem Gelände des SSC Tübingen los. Archivbild (2017): Werner Bauknecht

Der Probelauf auf der Originalstrecke geht auf dem Gelände des SSC Tübingen los. Archivbild (2017): Werner Bauknecht

Entstanden war die Idee, einen eigenen Volkslauf in Tübingen über die Halbmarathon-Distanz zu etablieren, bereits im Jahr zuvor. Sieben verwegene Gesellen vom Post SV Tübingen hatten beschlossen, das Laufabzeichen über die Marathonstrecke, also über 42,195 Kilometer, zu absolvieren. Das hieß, vier Mal den Bettelweg hoch, vier Mal eine fast 11 Kilometer lange Runde zu absolvieren, die es in sich hat. Und fünf von ihnen schafften es auch.

Okay, entschieden die erschöpften Läufer, die Hälfte langt auch, und beschlossen, den Lauf im nächsten Jahr den Läufern der Region als eigene Veranstaltung anzubieten. Sieger des ersten Nikolaus-Laufes war Horst Drebenstedt, der damals 1:28:31 für die Strecke benötigte. Die Strecke – das war mit Start auf dem Sand, am Beginn des da noch existierenden Trimm-dich-Pfads, wo sich inzwischen der Lauftreff des Post SV zusammenfindet. Dann ging es rein in den Wald, über den Rittweg und dann den Bettelweg hoch zum Heuberger Tor. Über Hagelloch zurück abermals übers Heuberger Tor und dann hinab über den Grünen-Plan-Weg Richtung Sportgelände SSC zum Start, Und diese Runde musste man zwei Mal absolvieren.

Bereits beim zweiten Lauf 1977 waren zwei der 39 Starter Frauen. Es gewann Gudrun Schreiber, eine Elfjährige(!), bei den Männern siegte Franz Teichmann in stolzen 1:20:38. Bereits 1980 fiel der Lauf zum ersten und einzigen Mal aus – wegen Sauwetter. Zwei Tage vor dem Start hatte es geschneit und die Strecke war nicht ohne Gefahr zu bewältigen. Noch am Morgen des 7. Dezember, dem Veranstaltungstag, hatte es in der Nacht noch 13 Grad Minus. Zwar hatte man es per Radio vermeldet, dass der Lauf ausfallen werde. Dennoch hatten sich etliche Läufer/innen zum Start eingefunden.

Die Bestzeiten purzelten im Lauf der Jahre. Kein Wunder, denn am Start standen teilweise ausgesprochene Eliteläufer. So war ein Willi Maier zweifacher Olympiateilnehmer, und der setzte eine erste Duftmarke mit einer Zeit um die 1:10 Stunden. Bis Anfang der 1990er galten die 1:09:16 von Jörg Hustig als der Streckenrekord, ehe die Piste dann 1995 neu vermessen wurde. Die Bestmarke auf dieser Strecke hält Stefan Jäger mit 1:10:57.

Das Jahr 2000 brachte grundsätzliche Änderungen mit sich. Zum einen kamen erstmals mehr als 1000 Teilnehmer/innen zur Veranstaltung, und dann wollten die bisherigen Macher vom Post SV nicht weitermachen. Der Schock in der Läuferszene war riesig. Denn die Ehrenamtler hatten 25 Jahre lang einen Riesenjob gemacht. Aber so einfach wollte man den Lauf nicht sterben lassen. Mit Ingo Becker und Gerold Knisel fanden sich glücklicherweise zwei Post-SVler, die Verantwortung übernahmen, und so ging es 2001 ins 26. Jahr, zunächst mit einer auf 800 Teilnehmer/innen beschränkten Veranstaltung. Das folgende Jahr brachte eine einschneidende Neuerung: Der Start- und Ziel-Bereich wurde vom Sand auf die Waldhäuserstraße gelegt, der Sand wurde nur noch einmal angelaufen, der Bettelweg musste allerdings noch immer zwei Mal erklommen werden. Von da ab explodierten die Zahlen der Anmeldungen und der Finisher, gleichzeitig erhielt der Lauf auch nationale Anerkennung. So wurde er 2003 im Internet zum beliebtesten Lauf Deutschlands gewählt – noch vor dem Berlin Marathon. Die Teilnehmerzahlen gingen über 1496 Finisher zu über 3400 Anmeldungen im Jahr 2019. Ab 2004 folgte die Domäne des Olympiasiegers Dieter Baumann, der vier Mal in Folge in unglaublichen Zeiten gewann. Darunter auch der heute noch bestehende Fabel-Streckenrekord von 1:07:15, den er 2005 herauslief. An dem biss sich auch der Inhaber des Deutschen Marathonrekords, Arne Gabius, die Zähne aus.

Eine Besonderheit ist der Nikolaus-Probelauf, der immer ein paar Wochen vor dem eigentlichen Event auf der Originalstrecke stattfindet (siehe Bauknecht-Bild). Der Veranstalter stellt Lauf-Guides, die verschiedene Laufzeiten anbieten, von 1:25 bis weit über zwei Stunden. Zu den Probeläufen kamen bisweilen über 1000 Mitläufer/innen, aber nie weniger als 800 – je nach Wetterlage. Das Angebot ist umsonst, die Läufer bekommen im Ziel Brezeln und heiße Suppe.

Der Lauf schrieb viele Geschichten, die im Gedächtnis bleiben. Richard Rein von der LG Mössingen zum Beispiel, der alleine an 26 von 30 Läufen teilnahm, erhielt lebenslanges freies Startrecht. Dieser Richard Rein wollte sich vor Jahren weil es draußen „arschkalt“ (Rein) war, noch eine Weile im Auto wärmen, ehe es losging. Leider verpasste er so den Startschuss und als er endlich zum Start erschien, war alle bereits beim Wetz auf der Piste.

Sabine Österle von der LAV Tübingen gewann 2010 ihren ersten von drei Nikolausläufen. In dem Jahr war Schnee auf der Strecke. Österle schnappte sich kurzerhand ihre Spikes und lief die 21 Kilometer auf den Dornen. Das merkte sie noch Tage später. Die deutsche Superläuferin Sabrina „Mocki“ Mockenhaupt nahm ebenfalls die Strecke unter die Schlappen. Und gewann 2016 in der damaligen Bestzeit von 1:20:01. Die alte Bestzeit – 1:21 Stunden von Steffi Maier – hatte ewig gehalten. Sie hatte damals mit ihrem heutigen Ehemann Martin Beckmann und dem LAV-Läufer Werner Bauknecht zwei Hasen, die sie ins Ziel antrieben. Inzwischen hat sich Anais Sabrie den Streckenrekord mit unglaublichen 1:17:25 Stunden geholt.

Seit etlichen Jahren tummeln sich an der Starterfeldspitze ein paar verkleidete Nikoläuse. Ihre Aufgabe: Erst mal das Feld geordnet anführen und dann aussteigen. Außerdem begleitet ein Nikolaus Sieger und Siegerin über die Ziellinie – manchmal lässt der Nikolaus sich auch tragen oder den Sieger. Einer der Nikoläuse ist, schon standardmäßig, Gunnar Erz. Der Mann und heutige Sportarzt, war selbst ein exzellenter Läufer, dem nur manche Verletzung einen Strich durch die Rechnung machte. Immerhin: Seine Bestzeit beim Nikolauslauf liegt bei einer starken 1:14er-Zeit. Im vergangenen Jahr aber setzte sich sein Läufer-Gen durch – er raste die ganzen 21 Kilometer im Nikolauskostüm durch, und finishte in der Bombenzeit von 1:24:23.

Man darf nicht vergessen, dass hinter so einer Veranstaltung etwa 250 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer stehen. „Nach dem Lauf ist bei uns immer direkt vor dem Lauf“, so Cheforganisator Knisel. In den vergangenen Jahren hat sich der Lauf professionalisiert. Er ist Mitglied im erlauchten Kreis der German Road Races, in dem auch Veranstaltungen wie der Berlin oder der München Marathon Mitglieder sind. Die Siegerehrungen finden im Foyer der Geschwister-Scholl-Schule statt, ebenso die Pressekonferenz. Wer will, kann nach dem Lauf ins Nordbad steigen, die Fahrten im Tübinger Stadtverkehr zum Event sind im Startgeld enthalten.

Und dieses Jahr nun also ein virtueller Lauf. Immerhin: Wer will, kann seinen/ihren Lauf auch auf der Originalstrecke bestreiten. Auf den Wettkampf innerhalb einer Gruppe muss man notgedrungen verzichten. Dennoch wird das Angebot angenommen. Derzeit sind 2530 Teilnehmer/innen gemeldet. Im Feld stehen, trotz der Umstände, deutsche Spitzenläufer. Übrigens: Es wird kein Antrittsgeld bezahlt – aus Überzeugung. Werner Bauknecht

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Erstellt:
11.11.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 29sec
zuletzt aktualisiert: 11.11.2020, 01:00 Uhr

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