Weltrekorde der unglaublichen Art

Der Ultra-Athlet Richard Jung vom Post SV Tübingen ist tagelang auf der Rennpiste

Der ehemalige Tübinger Ultrasportler Richard Jung lebt mittlerweile im Schwarzwald. Im Juli 2021 holte er sich den Weltrekord im Quintuple – das ist ein fünffacher Triathlon Iron Man. Für andere Menschen schier unglaubliche Leistungen sind für den 39-Jährigen nichts Ungewöhnliches.

15.09.2021

Richard Jung mit dem Rad, das den 5-fach-Triathlon-Weltrekord brachte. Bild: Privat

Richard Jung mit dem Rad, das den 5-fach-Triathlon-Weltrekord brachte. Bild: Privat

Wie wir bereits berichteten, benötigte der Sportler des Post SV Tübingen für die Strecke gerade mal 72:39,24 Stunden, also lockere drei Tage. So merkwürdig das klingt: Für Jung ist das nichts Besonderes.

Immerhin ist er auch Inhaber des Weltrekords über den – ja, das gibt es auch – „Deca Continuous“. Was nichts anderes ist als ein Zehnfach-Ultra-Triathlon mit den Ironman-Distanzen. Da schwimmt der Athlet dann zum Beispiel gleich zu Beginn erst mal 38 Kilometer, ehe er für 1800 Kilometer Rad fährt. Er benötigte dafür sage und schreibe 190 Stunden, 17 Minuten und 17 Sekunden. Alleine auf dem Rad saß er 86 Stunden, ebenso lang brauchte er für die 422 Marathon-Kilometer. Das war 2018 in Buchs/Schweiz.

Jung weiß, dass man ihn für exzentrisch hält. Zumindest manche tun das. Andere vergehen in Ehrfurcht und wundern sich, was ein Mensch zustande bringt, wenn es ihm damit ernst ist. Ernst? Da wiegt der 39-Jährige den Kopf hin und her. „Ja, das auch, aber vor allem geht es mir darum, ein schönes und intensives Wettkampferlebnis zu haben.“ Er redet viel über die Freude, die ihm dieser Sport macht, über das Erreichen der eigenen Grenzen, über die gefühlte Körperlichkeit.

So wie er das erzählt, nimmt man ihm jedes Wort ab. Muss er denn nie leiden bei einem Wettkampf? „Natürlich gibt es da auch immer mal Probleme.“ Doch nach seinem neuen Rekord war der Wahl-Lörracher nach einem kleinen Nickerchen am Mittag schon wieder putzmunter.

Sein Credo lautet: „Für mich steht beim Sport absolut im Vordergrund, dass er mein Leben bereichert und es geht mir nicht darum, zahlenverliebt darauf zu achten, irgendwelche messbaren Parameter zu verbessern.“ Auch mit den Kollegen kommt er glänzend aus. So hatte er beim Schwimmen über die 19-Kilometer-Distanz mit Beat Knechtle aus der Schweiz einen Konkurrenten, aber gleichzeitig auch einen Kollegen an der Seite, und sie legten die Strecke zu einem großen Teil gemeinsam zurück.

Das Radfahren über die 900 Meter beeinträchtigte viele der Teilnehmer wegen des ständigen Regens. „Aber zum Glück macht mir Regen nicht so viel aus“, so Jung, der vor seiner Hochzeit noch Widmer hieß. Regeneriert wird auf dem Rad, sagt er – man sollte so viele Pausen wie nötig machen, aber auch so wenige wie möglich. „Das ist der Kern des Erfolgs.“

Aber wie begann das denn alles? War Jung schon immer dieser Ausdauer-Crack? Da lacht der gebürtige Zwiefaltener. Er fand erst mit 14, 15 Jahren heraus, dass er nicht allzu viel Training braucht, um zügige Fortschritte zum Beispiel beim Laufen im Sportunterricht zu machen. „Und Klimmzüge machten mir Spaß.“ In der Abiturklasse entdeckte er das Radfahren für sich. „Da bin ich mit dem Rad zur Schule gefahren – jeden Tag 76 Kilometer hin und zurück.“

Das Radfahren blieb sein Ding. In den Semesterferien radelte er auch mal zu einem Festival nach Schleswig-Holstein und zurück. Touren führten ihn, alleine, nach Südspanien oder nach Genua. In Tübingen, beim Studium, schloss er sich dem Hochschulsport an. „Da lernte ich den Spaß an Wettkämpfen kennen“, sagt er. Zu seinem ersten Triathlon kam er eher zufällig: Er sprang für einen verletzten Kumpel ein. Dann startete er sogar in der Liga für die Tübinger. Aber: „Das war nicht meine Welt.“ Es waren der „Materialfetischismus“, der interne Wettstreit und die totale Fokussierung auf Zeiten, die ihn abschreckten.

„Dabei waren die Leute, die andauernd Trainingslager besuchten, nicht in der Lage, das Rad zum Beispiel praktisch zu nutzen, um damit zur Arbeit zu fahren.“ Dann erfuhr er von den Ultratriathlons. Und entdeckte so eine sportliche Welt. Gleich bei seiner ersten Teilnahme, 2012 in Slowenien, gewann er den dortigen Double. Was ihn beeindruckte: „Die Athleten fuhren normale Fahrräder, zelteten am Streckenrand und jammerten nicht ständig wegen Kleinigkeiten wie über die vielen Stechmücken bei Nacht.“

Ein Jahr später wurde er bereits Weltmeister im Double. Seither gewann er europaweit noch zahlreiche Ultras, unter anderem die Weltmeisterschaft im Triple (2017), und holte sich zwei Weltrekorde (5-fach und 10-fach Ultras). Von Beginn an ist er für den Post-SV Tübingen gestartet – bis heute.

Wie kann man denn für so einen Riesenwettbewerb überhaupt trainieren? Der Sozialpädagoge, der heute in Lörrach beim Sozialen Arbeitskreis Lörrach arbeitet, überrascht. Denn die Umfänge sind überschaubar: Er fährt mit dem Rad fünf Kilometer zur Arbeit, zwei- bis dreimal pro Woche schwimmt er eine halbe Stunde und an den Wochenenden versucht er, einen langen Lauf mit 50 bis 70 Kilometern oder eine Radtour mit bis zu 300 Kilometern zu machen. Im Herbst, Winter und Frühling „gehe ich jedoch nur sehr unregelmäßig ins Schwimmbad. Dazu absolviere ich ein bis zwei Mal im Monat eine lange Radtour von 200 Kilometern und einen Lauf pro Woche mit 25 bis 40 Kilometern Länge.“ Was dazu kommt: Seine Urlaube nutzt er meist für lange Radtouren, dann mit Freunden und Familie. Und nein, Krafttraining macht er nicht, und einen Ernährungsplan verfolgt er ebenso wenig. „Ich esse, was mir schmeckt und was ich vertrage.“

Fürs Training das Nötigste

Nur in den letzten vier Wochen vor einem Wettkampf trainiert er 10 bis 20 Stunden pro Woche. Überraschend auch seine Aussagen zur Ausrüstung: Da haben sich die LAV-Trainingspartner schon immer gewundert, dass Jung mit alten Schlappen auf der Bahn trainierte. Da lacht der Athlet. „Im Grunde mache ich mir schon Gedanken über meine Ausrüstung, aber eher dahingehend, was ich überhaupt brauche.“ Ihm reicht ein 20 Jahre altes Rennrad, gebraucht gekauft für 500 Euro, während manche seiner Gegner schon mal 5000 Euro in einen High-Tech-Renner investieren. „Anstatt also einfach 2 Kilo abzunehmen, kauft man sich ein teures Fahrrad, das nur noch 7 oder 8 Kilo wiegt.“

Überhaupt zählen bei Jung beim Wettkampf andere Dinge. Es sei beispielsweise schön, mit dem Fahrrad dahin zu sausen, die Muskeln spielen zu lassen und sich daran zu freuen, wie auch der Gegenwind einen nicht aufhalten könne. Und so eine Veranstaltung sei auch immer ein geselliges Ereignis. Es gebe viele andere Sportler, mit denen man im freundschaftlichen Wettstreit versuche, sich gegenseitig zu noch größeren Leistungen zu animieren.

Einer der Top-Stars der Szene ist der Este Rait Ratasepp. Sein Training 2018: In 1195 Trainingsstunden packte er 904 Kilometer Schwimmen, 12 975 Kilometer Radfahren und 5672 Kilometer Laufen. Dazu kamen noch unzählige Stunden an Workouts. An diese Dimension kommt Jung nicht heran. Und dennoch gewann er damals schon in Weltrekordzeit gegen den Esten seinen Fünffachen.

Dieses Mal hatte Richard Jung das Problem, dass er in den Pausen nicht schlafen konnte – sonst eine seiner Stärken. Deshalb änderte er seine Laufstrategie, machte nach den ersten 100 Kilometern mehr Pausen als gewöhnlich. Zwar seien diese Powernaps nicht Teil seiner Renneinteilung, aber dieses Mal hätten sie ihm wohl den Weltrekord gebracht, meinte er.

Seine Problemzonen seien die Knie, erzählt er. Deshalb dehnt er auch ständig, selbst auf dem Rad. Nach dem neuen Weltrekord meinte er ganz locker, „ein bisschen Schwimmen und Radfahren könnte ich schon wieder“ – und das gerade mal ein paar Stunden nach einem 5-fach-Triathlon.

Und damit hat der Post SV Tübingen einen Doppelweltrekordler und Mehrfachweltmeister in seinen Reihen. Einer, der übrigens direkt nach seinem ersten Weltrekord 2018 schon wieder an der Startlinie auftauchte. Nur eine Woche danach. Beim Triple in Lensahn. Dort belegte er gleich wieder den 2. Platz. Es sei dort richtig schön gewesen, berichtet er.

Unterstützt wird Jung von der Familie, von Mama und Papa. „Wir gucken, dass er Essen und Trinken hat“, so Gerhard Widmer. Klar, dass auch Ehefrau Bettina rund um die Uhr da war. Und auch eine neue Supporterin hat der Ultra-Mann inzwischen: Töchterchen Merle (3) steht schon an der Strecke. Im Endspurt motivierte sie den Papa noch mal richtig: Auf ihrem Kinderrädchen spielte sie die Lokomotive und gab richtig Gas. Im Ziel gab es dann ein Küsschen.Werner Bauknecht