Aus der Luft und zu Fuß (18)

Derendingen

Man kann aus oder nach Derendingen kommen – den südlichsten und zweitgrößten Tübinger Stadtteil, dessen eine Hälfte bis 1750 dem Kloster Zwiefalten gehörte und der deshalb sowohl katholisch als auch evangelisch war.

21.02.2018

Von Andrea Bachmann

Bilder: Erich Sommer

Bilder: Erich Sommer

Nach Derendingen kam nach vielen Wanderjahren 1567 der slowenische Pfarrer Primus Truber, der seinen Landsleuten das Wort Gottes in ihrer Muttersprache zugänglich machen wollte. Bei der Suche nach einem Verleger, der bereit war, Bücher zu drucken, die er selber nicht lesen konnte, kam Truber nach Tübingen, wo Herzog Christoph protestantischen Glaubensflüchtlingen gerne Asyl gewährte und Ulrich Morhart die ersten Bücher in slowenischer Sprache druckte. Truber baute ein Haus in der Nähe der heutigen Sieben-Höfe-Straße und fand dort eine neue Heimat.

Aus Derendingen kam der Bauernsohn Johann Ludwig Krapf, der an der Tübinger Lateinschule im Geographieunterricht lernte, dass es eine Welt jenseits von Württemberg gibt, die so unbekannt ist, dass auf einer Landkarte nur weiße Flecken zu sehen sind. Da wollte er hin. Er wurde Missionar und reiste 1837 nach Afrika. Dort verteilte er Bibeln, feierte Gottesdienste mit europäischen Immigranten, lernte Sprachen, baute neue Hütten und Häuser, bekam als erster Europäer den Mount Kenya zu Gesicht und bestaunte den Schnee auf dem Kilimandscharo. Das Ziel war immer da, wo die Landkarte noch weiß war.

Bis ins 19. Jahrhundert war Derendingen ein Bauerndorf, 1815 begann mit der Gründung der Ölmühle Wohlbold die Industrialisierung und als Derendingen 1934 nach Tübingen eingemeindet wurde, war es der am ehesten industriell erschlossene Ort der Universitätsstadt mit eigenem Bahnhof und repräsentativem Ortskern, zu dem auch das Rathaus gehört. Dort kann man heute noch heiraten und sich nach Größe der Festgemeinde sogar eins von zwei Trauzimmern aussuchen.

In unmittelbarer Nähe der Ölmühle betrieben Julius Wurster und sein Schwiegersohn Paul Dietz ein Sägewerk und eine Gießerei, in der Sägen und Gattermaschinen hergestellt wurden, die zu den leistungsfähigsten der Welt gehörten.

Am Ende des alten Jahrtausends zogen Wurster & Dietz, längst eine moderne Maschinenbaufirma, nach Altötting und 2005 wurden die Gebäude auf dem brach liegenden Industriegelände abgerissen. Heute steht auf dem Gelände des ehemaligen Sägewerks von Julius Wurster ein lebendiges Stadtquartier, in dem rund 700 Menschen leben und arbeiten.

In gerade einmal vier Jahren wurde von 2006 bis 2010 ein völlig neues Stadtquartier gebaut, nur noch das Maschinenhaus auf dem Magazinplatz und die Straßennamen erinnern an das alte Sägewerk. Vor allem Baugruppen errichteten auf dem Areal Reihen- und Mehrfamilienhäuser in einer erstaunlichen architektonischen Vielfalt. Im Südosten entstand ein kleines Gewerbegebiet für Firmen, die an einer engen städtischen Anbindung interessiert sind. Die Parzellengrößen wurden den Bedürfnissen der Interessenten angepasst und vom Low-Budget-Projekt bis zum futuristischen Null-Energiehaus ist fast alles zu finden, was an innovativer Stadtarchitektur möglich ist.

Nach seiner Renaturierung fließt auch der alte Mühlbach wieder durch das Quartier, in dem fast alle Straßen Spielstraßen sind und wo im Sommer ein Großteil des Lebens draußen stattfindet.

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Erstellt:
21.02.2018, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 21.02.2018, 01:00 Uhr

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