Ziegel für die Villen

Die Dampfmaschine erhöhte die Produktion

31.08.2016

Clemens&Decker lieferte auch die Klinkersteine für die Tübinger Olgastraße.Bild: Bachmann

Clemens & Decker lieferte auch die Klinkersteine für die Tübinger Olgastraße.Bild: Bachmann

Werkmeister Gottfried Clemens würde seinem Kompagnon und Freund Johannes Decker am liebsten um den Hals fallen: „Gell, heut‘ Abend kommt ihr zu uns, da wird ordentlich gefeiert. Da stoßen wir auf die Zukunft an. Und auf die neue Dampfmaschine!“

Clemens ist begeistert. Fortschritt! Das ist für ihn ein Zauberwort. Und das Symbol des Fortschritts ist die Dampfmaschine, die sie an diesem 31. August 1894 in Betrieb nehmen. Ganz neu ist sie nicht, sie haben sie von der Schokoladen- und Bonbons-Fabrik Moser & Cie. aus Stuttgart übernommen. Aber ein starkes Stück ist es, was die Stuttgarter Maschinen- und Kesselfabrik Kuhn da gebaut hat: 90 PS stark, um ganz genau zu sein, und eine Drehzahl von 90U/min. Damit werden sie schneller und besser produzieren können. Gottfried Clemens, Inhaber des 1872 gegründeten Bauunternehmens und der Ziegelei Clemens & Decker im Tübinger Käsenbachtal, ist heute ein glücklicher Mann.

Wie Märchenschlösser

Die Stadt wächst und Clemens & Decker profitieren von dem Bauboom. Gleich nach ihrer Gründung haben sie die große Kaserne in der Südstadt hinter dem Bahnhof bauen können. Es folgten das Physiologisch-Chemische Institut 1888, die Frauenklinik 1890 und dazwischen viele große und schöne Professorenvillen.

Auf die Häuser in der Olgastraße ist der Werkmeister besonders stolz. Es ist ihm vollkommen egal, dass sich ein paar Gôgen über die rot-gelben Villen lustig machen und behaupten, sie würden aussehen, als kämen sie aus einem Anker-Steinbaukasten. Die Klinkersteine leuchten einfach wunderbar in der Sonne und die vielen Türmchen und Erker verleihen dem ganzen Ensemble die Anmut eines Märchenschlosses.

Anschluss unter Nummer 6

Es wird so weiter gehen. Die Universität plant weitere Klinikbauten, Studentenverbindungen träumen von eigenen großen Häusern, die Garnison braucht immer mehr Platz und so manche Professorengattin wird erst ruhen, wenn sie ihr persönliches Schlösschen in der Neckarhalde oder auf dem Österberg ihr eigen nennt. Und alle brauchen sie Verblendsteine, Profilsteine, glasierte Steine, Fassadenmetersteine, Gluckersteine, Backsteine, Hohlnutengewölbesteine, Kaminradialsteine, Kanalsteine, Schachtsteine, Drainageröhren sowie schwarzen und weißen Kalk. Wenn der Zimmermann seine Arbeit getan hat, werden Doppelziegel und Strangfalzziegel, Biberschwänze, Dachplatten und Turmziegel in der prächtigen roten Farbe, die den Lehm aus dem Käsenbachtal auszeichnen, über Tübingen leuchten. All das stellt die Ziegelei her. Die Dampfmaschine wird dabei helfen.

Es ist noch nicht lange her, da war das Ziegelmachen fast reine Handarbeit. Der Ton wurde per Hand ausgegraben und bearbeitet. Ein Arbeiter konnte bis zu 6000 handgestrichene Steine an einem Arbeitstag anfertigen. Mit Hilfe der neuen Dampfmaschine können jeden Tag noch viel mehr Ziegel gebrannt werden, das Befeuern der Öfen wird einfacher – für die Herren Clemens und Decker ist das der richtige Weg, um nicht nur im wörtlichen Sinne steinreich zu werden.

Bis zum Zweiten Weltkrieg wird die Dampfziegelei Clemens & Decker das Gebiet zwischen der Gmelinstraße, dem Röntgenweg und dem Geissweg Tübingen und Region mit Dachziegeln und Klinkersteinen versorgen. Nicht nur zur Freude der Tübinger – die beschwerten sich so häufig über den Lärm, den die schweren Lastwagen auf den Straßen machten, dass die Firma 1904 im Gemeinderat einen eigenen Gleisanschluss beantragte. Im selben Jahr leistete man sich einen der ersten eigenen Telefonanschlüsse und bekam die Nummer 6. 1910 stellte man das Baugeschäft ein und konzentrierte sich ganz auf die Herstellung von Klinkersteinen und Ziegeln aller Art. Vorzügliches Rohmaterial, neueste Technik und viel Erfahrung machten die Produkte von Clemens & Decker zu einer gefragten Ware.

An den Staat verkauft

Erst die Weltwirtschaftskrise brachte auch die Ziegelei in ernsthafte Schwierigkeiten. Gleichzeitig warf die Universität begehrliche Blicke auf das Firmenareal. Im Zweiten Weltkrieg nahm der Bedarf an Ziegelwaren jedoch noch einmal so zu, dass der Betrieb als besonders kriegswichtig eingestuft wurde.

Trotzdem verkauften Aline Clemens geb. Decker und ihre Kinder Walter Clemens und Annaliese Hanselmann geb. Clemens das Firmengelände an den württembergischen Staat. Die Verhandlungen waren schwierig: Das Werksgelände wurde 1941 zum Naturschutzgebiet erklärt, gleichzeitig drohte Württemberg der Witwe des Firmeninhabers mit Enteignung, weil ein großer Teil des Geländes für den Neubau der Universitätskliniken benötigt wurde.Andrea Bachmann