Gedruckte Fenster

Die Tübinger Kunsthalle mit neuem Kunstformat: Außer Haus

22.05.2019

Kunstprojekt „Außer Haus“: Bettina Pousttchi hat an drei eigentlich fensterlose Fassaden des Hochhauses im Philosophenweg große Fenster-Fotodrucke gehängt. Bild: Andrea Bachmann

Kunstprojekt „Außer Haus“: Bettina Pousttchi hat an drei eigentlich fensterlose Fassaden des Hochhauses im Philosophenweg große Fenster-Fotodrucke gehängt. Bild: Andrea Bachmann

Tübingen. „Einer der Hausbewohner hatte ein bisschen Angst wegen des Lärms, aber der hat sich beruhigt, als er gemerkt hat, dass da nichts klappern wird. Alle anderen fanden die Idee gar nicht schlecht. Und dann hat mich tatsächlich jemand gefragt, ob wir jetzt an allen Seiten Fenster eingebaut haben.“ – Die Hausmeisterin des sieben Stockwerke hohen, achteckigen Appartementhauses am Tübinger Philosophenweg gegenüber der Kunsthalle sieht es gelassen, sozusagen Teil eines Kunstprojektes zu sein. Der Aufbau der Installation der in Berlin lebenden Künstlerin Bettina Pousttchi war da ungleich spannender: Die Arbeiten mussten immer wieder wegen Starkwind unterbrochen werden. Aber am Freitagmorgen vor der offiziellen Eröffnung ist doch noch alles rechtzeitig fertig geworden.

Die Offenheit und die positiven Rückmeldungen der Bewohner/innen des Gebäudes nehmen Bettina Pousttchi und Kunsthallendirektorin Nicole Fritz nicht als Selbstverständlichkeit. „In vielen Städten scheitern Sie mit solchen Vorhaben schon am Ordnungsamt“, verrät Pousttchi. „Viele meiner Projekte schaffen es deswegen nie an die Öffentlichkeit.“

Das ist schade, denn die Installationen von Bettina Pousttchi transformieren den öffentlichen Raum und machen sichtbar, was normalerweise so sehr (oft genug hässlicher) Bestandteil unseres Alltags ist, dass wir es kaum noch wahrnehmen.

An den drei normalerweise mit Metallelementen verkleideten, fensterlosen Fassaden des Hauses hängen jetzt große Fotodrucke auf PVC-Planen: Fotomontagen, die aus den Fotos entstanden sind, die Pousttchi von den Fenstern an den anderen Fassaden gemacht hat. Ein Trompe l’oeil: Das Haus wirkt plötzlich hell und lichtdurchflutet. Die Künstlerin hat das Gebäude nicht wie Christo verhüllt, im Gegenteil: die fiktiven Fenster scheinen das Haus zu öffnen und verleihen ihm einen neuen, schwungvolleren Rhythmus. „Du hast eigentlich das Gebäude zu Ende gedacht“, freut sich Nicole Fritz. „Ich bin sehr glücklich darüber, was da entstanden ist.“ Tatsächlich: Man braucht jetzt den Blick zum Nachbarhaus als Vergleich, um zu sehen, was sich da eigentlich verändert hat.

Die beiden achteckigen Häuser im Philosophenweg sind Ende der 1960er-Jahre als Teil der auf der Wanne geplanten „grünen Satellitenstadt“ entstanden. Die Architekten waren Otto Jäger und Werner Müller, die 1969 die Wohnhochhäuser im Asemwald bei Stuttgart gebaut haben – damals eine Vision modernen Städtebaus. Man träumte von gemeinsamem Leben und internationalem Flair. In einem der Gebäude waren zu Beginn ein Hotel und eine schicke Bar untergebracht. Was zunächst hip und zeitgemäß erschien, galt allerdings bald als „Bausünde“ oder seelenlose Bettenburg. Das ändert sich gerade wieder: Wer jetzt das Haus im Philosphenweg betritt, staunt über den Retro-Charme des gelben Treppenhauses inklusive Plastikblumenbeet und Holzvertäfelung und kann diesem modernistischen Experiment der 60er-Jahre plötzlich wieder etwas abgewinnen.

Auch Bettina Pousttchi war von den beiden Oktagonen mit den großen, fensterlosen Fassaden begeistert. Die geriffelte Metallfassade als futuristisches gestalterisches Element stamme aus einer Zeit, in der die Städte noch nicht mit überdimensionalen Werbeplakaten vollgepflastert wurden und sei etwas wirklich Besonderes. Vergleicht man jetzt die beiden Häuser miteinander, wirkt die fensterlose Front des Nachbargebäudes tatsächlich wie eine Leerstelle, die darauf wartet, gefüllt zu werden.

Die Installation ist nicht ihr erstes Fassadenprojekt, Pousttchi hat auch schon in Berlin und Frankfurt Fassaden gestaltet. Auch sonst ist sie immer im öffentlichen Raum unterwegs, die Stadt ist das große Thema in ihrem künstlerischen Schaffen. Kunst solle im Stadtraum Resonanz erzeugen und ihn auf neue Weise sichtbar machen.

Mit diesem künstlerischen Credo passt Pousttchi perfekt zu dem neuen Format der Tübinger Kunsthalle, das „Außer Haus“ heißt. Dabei verlegen Künstlerinnen und Künstler ihre Aktivitäten in den Stadtraum, gehen auf die Stadt als Projektionsfläche ein und fördern so eine neue Sensibilität für den öffentlichen Raum. Für die Kunsthalle, die ja auch „außerhalb“ der Stadt liegt, sei das ein ebenso spannendes wie angemessenes Experiment, meint Kunsthallenchefin Nicole Fritz. Andrea Bachmann

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Erstellt:
22.05.2019, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 22.05.2019, 01:00 Uhr

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