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Ein Sammler räumt auf – Mein Bücherberg und ich

Aussortieren oder doch behalten? Unser Autor versucht nach einem Umzug, Teile seiner privaten Bibliothek zu veräußern. Aber das ist gar nicht so einfach. Denn selbst manch bibliophile Schätze, über Jahre gesammelt, sind im digitalen Zeitalter kaum noch begehrt.

27.11.2021

Von Stephan Clauss

Alles im Überfluss vorhanden: Etliche Sammler und sogar Händler geben weniger gefragte Exemplare aus ihren Beständen oft kostenlos ab.  Foto: Stephan Clauss

Alles im Überfluss vorhanden: Etliche Sammler und sogar Händler geben weniger gefragte Exemplare aus ihren Beständen oft kostenlos ab. Foto: Stephan Clauss

Hamburg. Morgen werde ich die große blaue Papiertonne wieder an den Straßenrand rollen. Sie ist randvoll, sechs Wochen nach unserem Umzug, dem hoffentlich letzten in meinem Leben. Der Papiermüll wiegt viel schwerer als sonst. Denn es liegen Bücher drin, zum ersten Mal. Leicht fiel es mir nicht, sie wegzuwerfen.

Das Aufräumen in den Regalen war noch nie meine liebste Beschäftigung. Bei mir stehen die Bände auch nicht stramm sortiert wie bei ordentlichen Menschen. Meine Büchersammlung gleicht eher einem noch lebenden Korallenriff – mit regem Kommen und Gehen; es wuchs mit den Jahren, birgt verlorene Schätze neben vergessenem Schund. Es braucht also mehr als Energie und Motivation, es braucht einen putzteufelsheiligen Zorn, um in diese Struktur radikal-behutsam einzudringen. Keine Zeit mehr zum Schmökern und Zögern, es geht um Befreiung von angehäufter Last, um Raumgewinn im neuen Heim.

Das bedeutet konkret, den Inhalt von 40 Kartons mit Büchern und Dokumenten aus einem 30 Quadratmeter großen Mansarden-Büro (plus Dachboden) in einem nicht halb so großen Arbeitszimmer unterzubringen. Gewiss, ich hätte schon im Sommer mehr davon „entsorgen“ sollen. Dann hätte ich jetzt weniger Arbeit. So stecke ich nun auf halber Strecke fest wie die „Evergiven“ im Suezkanal. Verzweifelte Manöver auf kleiner Fläche. Alle fünf Regale sind bereits wieder voll bis oben. Und doch ist längst nicht alles verstaut. Ich dreh’ mich im Kreis.

„Eines rein, eines raus“ ist keine Lösung

Weil die Umzugsfirma nach drei Wochen all ihre Leihkartons entleert und gefaltet zurück verlangte, habe ich vorher noch jede Menge Bücher und Papiere umgepackt, in alte gelbe Postkisten und neue Ikea-Aufbewahrungsboxen, denen leider wegen akuter Lieferprobleme die durchsichtigen Deckel fehlen; sie sind so nicht stapelbar. Im Treppenhaus stehen noch fünf Kisten im Wege. Keller und Dachboden sind dieses Mal als Ablageorte tabu.

Was tun? Das Dilemma, in dem ich mich befinde, ist allen Bücherfreunden bekannt, die nicht gerade in Palästen wohnen. Die goldene Regel aller Aufräum-Experten aber, dass ein neues Buch nur dann ins Haus darf, wenn ein altes dafür weicht, ist albern und nutzt mir rein gar nichts. Denn meine Bibliothek besteht nicht nur aus Kinderbüchern, Gedichten, Erstausgaben, Kunstfolianten, Biografien und Lieblings-Romanen. Sondern auch aus Lexika und Sachbüchern mehrerer Wissensgebiete. Ich benutze sie täglich.

In meiner Familie gehörte der Besitz von gebundenen Büchern in massiven Holzregalen noch zu den Statussymbolen bürgerlicher Wohnkultur. In der Regalwand meines Vaters (Jahrgang 1901) durfte nichts verstellt werden. Und meine Mutter hat die Bände dann tatsächlich einmal im Jahr entstaubt. Eine Welt von gestern in diesen digitalisierten Zeiten, die nachhaltige Datenträger aus Papier zunehmend zu Ballast erklärt. Ausgelesene wie ungelesene Bücher los zu werden war scheinbar noch nie so schwer wie heute. Es gibt zu viele davon. Wer will sich damit belasten?

Aber einfach wegwerfen kann ich sie genauso wenig wie alte Fotos und hartes Brot. Daran ist meine Erziehung schuld. Dazu schleppe ich noch – für wen auch immer – Tagebücher, Fotoalben, Briefe und Dokumente aus 300 Jahren Familiengeschichte mit, von Umzug zu Umzug. Verständnis kann ich kaum erwarten, höchstens coole Ratschläge von smarten Menschen, die sich alles Wissenswerte online besorgen und nur wenig Unterschiede machen zwischen alten Büchern und alten Schuhen. „Wozu brauchst Du überhaupt so viele Bücher?“, werde ich gefragt, „so eine Bibliothek hat ja heute kein Mensch mehr...“ Was soll ich dazu sagen? Dass Bücher mir mehr bedeuten als ihr Ladenpreis? Auch der Kommentar: „Du bist halt ein Messi“ kratzt mich schon lange nicht mehr.

Marie Kondo kennt keine Bücher

Im Augenblick brüte ich also wieder über einem Aktionsplan, der es mir erlaubt, bis Weihnachten in einem funktionsfähigen Studio zu sitzen. Mit Beinfreiheit unterm Schreibtisch statt Kartons und Aktentaschen. Mit einer sauber nach Themen geordneten schwarzen Regalwand, die meine angesammelten Werke immerhin seit vielen Jahren tapfer erträgt. Als erstes werde ich alle Taschenbücher aussortieren. Und ein Buchpaket für Tante Astrid packen.

So einfach, wie sich die Bestseller-Autorin Marie Kondo („Magic Cleaning“) und ihre minimalistische Community die Sache vorstellen, geht es nicht. Zumal Bücher in Kondos Aufräum-Fibel gar nicht mehr vorkommen! Glücksgefühle hin oder her, hier geht es nicht um die Kunst, ein T-Shirt optimal zu falten. Wenn ich hier zu schnell loslasse, riskiere ich, dass mir das zwölfbändige Kunstlexikon des Herder-Verlags auf den Kopf fällt ...

Magie ist durchaus im Spiel. Ich hatte schon oft das Gefühl, dass meine ältesten Weggefährten sich ganz subtil wehren gegen das Aussortieren, sie verbünden sich mit schönen Erinnerungen und machen mir ein schlechtes Gewissen. Immer, wenn ich gerade soweit war, einen Karton voll entbehrlicher Titel wegzutragen, fiel mir wieder irgendein Band vor die Füße, der sentimentale Reflexe auslöst wie das zerfledderte Mini-Buch „Das Märchen vom dicken, fetten Pfannkuchen“, aus dem mir einst vorgelesen wurde. Und „Pallieter“ aus der Feder des Flamen Felix Timmermanns zum Beispiel, es erschien 1914 nur kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, las meine Mutter kurz vor meiner Geburt; 50 Jahre später las ich die unschuldig-heitere Erzählung dann selbst und glaubte eine Weile, mir meinen friedfertigen Charakter und meine Liebe zum plat pays zwischen Brüssel, Gent und Brügge mit dieser pränatalen literarischen Prägung erklären zu können.

Meine Mutter schrieb sowieso alles auf, was ihre Buben so plapperten. So lese ich in einem der vielen geretteten Tagebücher, dass ich mit sechs Jahren angeblich Heiliger werden wollte. Und warum? „Dann hätte ich einen Heiligenschein – und dann brauch’ ich zum Lesen keine Lampe“. Das war noch vor dem ersten Schultag.

Gedrucktes loswerden ist schwer

Niemand, den ich kenne, hat mehr Bücher gelesen, übersetzt und geschrieben als meine älteste Freundin Sybil Gräfin Schönfeldt in Hamburg. Sie lebt und arbeitet allein im zweiten Stock einer Altbauwohnung nahe der Alster und ist umgeben von gepflegten Bücherwänden in mehreren Räumen, schätzungsweise 20 000 Bände umfasst ihre Privatbibliothek. Ich frage auch die erfahrene Journalistin um Rat, will wissen, wie sie die Fülle verwaltet. Sie erzählt, dass sie ausgemusterte Bücher einfach in einem Korb im Treppenhaus ablegt, damit sich jeder Mensch bedienen könne, der sie besucht oder ihr etwas bringt. „Meine treueste Abnehmerin ist übrigens meine Metzgersfrau, sie hat einen ausgesprochen guten Geschmack“.

Der Tipp der alten Dame bringt mich nun auch nicht so recht weiter. >

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Erstellt:
27.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 17sec
zuletzt aktualisiert: 27.11.2021, 06:00 Uhr

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