Das war es mit dem Erbe-Lauf

Erstmalige Absage für den Traditionslauf durch die Tübingen Stadtmitte

Was zu erwarten war, wird leider Wirklichkeit: Der 27. Erbe-Lauf, geplant für den 20. September 2020, wird coronabedingt definitiv abgesagt.

10.06.2020

Statt des Erbe-Laufs gibt es 2020 die Erinnerung an Vergangenes, denn der Lauf ist abgesagt. Ein Kennzeichen waren stets die Läufer auf der Neckarbrücke. Archivbild: Ulmer

Statt des Erbe-Laufs gibt es 2020 die Erinnerung an Vergangenes, denn der Lauf ist abgesagt. Ein Kennzeichen waren stets die Läufer auf der Neckarbrücke. Archivbild: Ulmer

„Es lässt sich einfach nicht organisieren, mit genügend Abstand zu laufen“, sagt dazu Ansgar Thiel, der Direktor des Tübinger Instituts für Sportwissenschaft. Meist waren mehr als 3000 Starter und Starterinnen auf der Strecke, aufgeteilt zwar in mehrere Läufe, aber dennoch geht es auf einer mehrmals zu durchlaufenden 2,5-Kilometer-Strecke turbulent zu. Überholmanöver sind an der Tagesordnung, eng ist es allemal bei dem Wetz.

Und dann kommt noch eine fünfstellige Zahl an Zuschauern an der Strecke dazu. Und ganz ehrlich: Ohne Zuschauer ist so ein Lauf schlicht undurchführbar, denn in Tübingen gehören die Anfeuerungsrufe der Fans zum Lauf dazu wie die Läufer selbst. Die Geschichte des Tübinger Stadtlaufs, der seit 2012 nach dem Hauptsponsor benannt ist und Erbe-Lauf heißt, ist reich an Anekdoten und Ereignissen – aber eine Absage gab es noch niemals zuvor.

Seit der zweiten Ausrichtung 1995 ist er eingebettet in den Tübinger provenzalischen Markt, der ein Jahr später zum umbrisch-provenzalischen Markt wurde. Das ist eine Art Hommage an die Tübinger Partnerstädte Perugia (Umbrien, Italien) und Aix-en-Provence (Provence, Frankreich). Mitten durch das Marktgeschehen führt die Strecke. Beim ersten Mal, 1994, war die Strecke noch 10 Kilometer lang, das hieß, dass die SportlerInnen vier Mal die Altstadt durchquerten.

Erster Sieger war übrigens Stephan Freigang (29:59 Minuten), erste Siegerin Claudia Metzner (33:57 Minuten). Gegründet hatten den Lauf einige Mitglieder der damaligen LAV Tübingen, federführend und damals das Gesicht des Laufs war Frieder Wenk, in der Zeit selbst noch aktiver Wettkämpfer auf der Laufstrecke. „Ich habe das nicht alleine gemacht“, sagte Wenk stets, „wir waren damals ein tolles Team, das den Lauf aus dem Boden gestampft hat.“

Im zweiten Jahr verkürzten sie die Strecke auf 7,5 Kilometer, also auf drei Runden. Daran taten sie gut, denn die Piste war nicht einfach zu bewältigen, und es sollten ja vor allem die Hobbysportler angesprochen werden. Wo sich stets die Spreu vom Weizen trennte, war der Anstieg durch die Neckargasse. Beim dritten Mal ächzten dann auch die Profiläufer.

Apropos: Das war stets ein Kennzeichen des Tübinger Laufs – dass Hobbysportler und Weltklasse gemeinsam und in einem Rennen gegeneinander rannten.

Herausragend dabei natürlich stets ein Name, zumindest aus Sicht der Einheimischen: Lokalmatador Dieter Baumann. Der gewann den Lauf zum Beispiel 1997, und 2003 feierte er in Tübingen groß seinen Abschied vom Läuferleben. Das tat er gemeinsam mit Läuferkollegen Laban Chege, fünffacher Sieger in Tübingen, und Tendai Chimusasa, vierfacher Gewinner in der Unistadt. Unvergesslich somit der 10. Tübinger Straßenlauf.

Schaut man auf die Namen, die in Tübingen bereits am Start waren und sich in die Siegerlisten eintrugen, dann liest sich das wie das Who-is-who der Weltklasse der Langstreckler. Da tauchen Olympiateilnehmer auf, WM-TeilnehmerInnen und natürlich auch viele deutsche Spitzensportler. Dominiert allerdings wurde der Lauf, und das bis heute, von der afrikanischen Läufergilde: Außer Chege und Chimusasa (Simbabwe) noch Kosgei, Kigen, Kiptop, Rottich, aber auch der deutsche Spitzenläufer Richard Ringer bei den Männern. Bei den Frauen ganz vorne die Ausnahmeläuferin Irina Mikitenko, dann Edith Masai, Luminita Zaituc, Sabrina Mockenhaupt und erst im vergangenen Jahr wieder ein deutscher Sieg durch Hanna Klein.

Was den Stadtlauf ebenfalls auszeichnet, sind die Vorbereitungsläufe, die von den Veranstaltern organisiert werden. Früher fanden sie im Rahmen des Post SV-Lauftreffs immer samstags und mittwochs auf dem Sand statt. Dort konnten die Stadtlaufkandidaten und -kandidatinnen gemeinsam trainieren mit Cracks wie Baumann, Filmon Ghirmai, dem 800-Meter-Weltrekordler David Rushida oder Bernard Lagat.

Die meisten dieser Läufer verbrachten ohnehin ihre gesamte Wettkampfzeit, vom Frühjahr bis in den Herbst hinein, in ihrer afrikanischen Läufer-WG in einem Haus in Derendingen. Aber auch die Tübinger Top-Läufer machen mit beim Training und führen eine Gruppe an. Seitdem die Strecke wieder auf 10 Kilometer aufgestockt und auch die Streckenführung verändert wurde, finden die Vorbereitungstrainings vorwiegend mit Startpunkt Sportinstitut Lustnau statt. Da gibt es dann Promis als Guides, und nach dem Lauf Getränke umsonst.

Die Strecke selbst führt wieder drei Mal durch die Innenstadt, Start allerdings ist an der Neuen Aula in der Wilhelmstraße. Die Neckargasse ist aus der Strecke raus, dafür geht es jetzt drei Mal die Mühlstraße hoch – auch kein Zuckerschlecken. Ein Highlight jedes Mal, ob beim Ursprungslauf oder bei der neuen Strecke, ist der Run über den Marktplatz. Dicht an dicht stehen dort die Fans und feuern jede/n an. Gänsehaut pur.

Doch für 2020 spielt das alles keine Rolle mehr, die Vorbereitungen werden abgebrochen. Verschieben geht nicht, so einen Termin kann man nicht einfach festsetzen, denn durch die Veranstaltung wird die gesamte Innenstadt lahmgelegt. Das kann nur im Rahmen des Marktes funktionieren. Aber selbst der ist noch unsicher. Man will einen umbrisch-provenzalischen Markt „light“ durchführen.

Allerdings: Wie soll man einen Markt ohne Marktstände abhalten? Und: Wie können Menschen durch einen Markt schlendern, ohne sich zu begegnen und zu berühren? Da kann man dann gleich auch den Lauf erlauben.Werner Bauknecht