Der Kommentar

Feste fürs Gedächtnis

21.09.2022

Von Angelika Brieschke

Neulich konnte ich TAGBLATT-ANZEIGER-Leserinnen und -Lesern direkt ins Gesicht schauen – unvorbereitet und überraschend. Waren doch etliche gestandene Männer darunter und ich war bis dahin der irrigen Meinung, dass meine Leserschaft im Wesentlichen weiblich sei. Eine Fehleinschätzung, wie ich schnell zugeben musste – einer der Männer sagte nur kurz: Warten in der Kloschlange. (Darüber hatte ich vor einigen Wochen an dieser Stelle geschrieben.)

Ich war auf der Jahrgangsfeier in Hirrlingen, dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Und doch ja, das war schon ein kurzer peinlicher Moment gewesen – aber nichts im Vergleich dazu, wie ich später versuchte, mit Jahrzehnte gealterten Informationen meine Mitfeiernden wiederzuerkennen. Ich verfüge über ein lausiges Gesichtergedächtnis, das nur noch durch mein lausiges Namensgedächtnis getoppt wird. Zudem hatte ich mit dem Großteil meines Jahrgangs nur während der Kindergarten- und Grundschulzeit mehr zu tun und da wir viele, sehr viele Babyboomer waren, musste in Hirrlingen erstmals ein Grundschuljahrgang in zwei Klassen geteilt werden – was dort katholischerweise geschlechtergetrennt gemacht wurde.

Das wiederum hatte jetzt zur Folge, dass ich bei manchen Jahrgängern doch Probleme hatte, zu einem heutigen Gesicht mit Namen aus meinem Gedächtnis ein früheres Gesicht aufrufen zu können. Merkwürdigerweise gab mein Gedächtnis eher Straßennamen frei: Nämlich den, wo derjenige früher gewohnt hatte, also wo sein Elternhaus stand. Und dann sagte auch noch jemand mitten in meine chaotischen Grundschüler-Identifizierungs-Suchläufe hinein: „Ja, in Hirrlingen gibt es Biesinger, die nicht miteinander verwandt sind.“ (Oder sagte er „Beuter“?).

Ach ja, dachte ich da: „Namen sind Schall und Rauch“, holte mir noch einen Nachtisch und amüsierte mich weiter. Denn eines wusste ich noch von früher und das hat sich in all den Jahren nicht geändert: Auf dem Dorf kann man gut Feste feiern.