Der Rebell aus Reutlingen

Friedrich List erhielt Achtung und Anerkennung als Eisenbahnpionier und Ökonom – weltweit, aber nic

20.01.2021

Das Denkmal für Friedrich List vor dem Reutlinger Bahnhof.

Das Denkmal für Friedrich List vor dem Reutlinger Bahnhof.

Der König war brüskiert. Als Wilhelm I. die „Reutlinger Petition“ zugespielt wurde, in der Friedrich List die württembergische Bürokratie geißelte, sorgte er für Lists Ausschluss aus dem Ständeparlament. Der Kriminalgerichtshof in Esslingen verurteilte ihn zu zehn Monaten Festungshaft. Dieser Karriereknick konnte jedoch nicht verhindern, dass List weltweit als Eisenbahnpionier und Ökonom Achtung und Anerkennung genießt. In Reutlingen wird vielfach an den großen Sohn der Stadt erinnert.

List wurde 1789 in der Kramergasse 64, der heutigen Wilhelmstraße, als achtes von zehn Kindern geboren. Am „Listhaus“ weist eine Tafel mit Porträt auf das Geburtshaus hin. Friedrichs Vater, Johannes List, war Weißgerber und hatte sich auch in der reichsstädtischen Kommunalpolitik Verdienste erworben. Darüber hinaus wachte er als Spitalpfleger auch über die Finanzen des Alten- und Pflegeheims Spitalhof. Friedrichs Mutter, Maria Magdalena geborene Schäfer, wird als treusorgende Frau mit einem mustergültigen Hausstand beschrieben. Getauft wurde Friedrich am Taufstein der Marienkirche, der damit ebenfalls einen der Erinnerungsorte darstellt.

Die Familie List lebte aber auch von der Landwirtschaft. „Als Ackerbürger bewirtschaftete sie Gärten, Äcker, Wiesen, Gütle und Weinberge und war Selbstversorger für einen großen Haushalt, zu dem sich auch Dienstboten und Lehrlinge gesellten“, berichtet Prof. Eugen Wendler, ausgewiesener List-Experte.

Mit fünfeinhalb Jahren kam List in die Lateinschule, wo heute das Naturkundemuseum unterbracht ist. Die Schule machte dem Jungen wenig Freude. „Die Lehrer waren schlecht bezahlt, unmotiviert und ließen die Kinder viel stur auswendig lernen“, so Eugen Wendler. „Das passte nicht zu dem aufgeweckten Friedrich.“ Der Junge schrieb aber gute Aufsätze und hatte auch eine angenehme Singstimme. Später bedauerte er, dass dieses Talent nicht gefördert worden war. Gerne vertiefte sich Friedrich in Romane, Reise- und Länderbeschreibungen.

Nach acht Jahren machte List seinen Schulabschluss, vergleichbar mit dem heutigen Abitur. Wegen der bescheidenen schulischen Erfolge kam aber ein Studium nicht in Frage. Die Eltern entschieden, den Jungen im väterlichen Betrieb zum Weißgerber ausbilden zu lassen. In der Oberen Wässere ist am früheren Ort der Gerberei eine nur mit Mühe erkennbare Tafel angebracht.

„Die schwere und übelriechende Arbeit sagte Friedrich jedoch nicht zu“, erzählt Wendler. Friedrich büxte aus, wo er konnte, baute sich ein Boot aus einer Backmulde und schipperte über einen Teich in der heutigen Oststadt zu einer kleinen Insel, wo er sich wieder seinen geliebten Büchern widmete. Zum Gerberhandwerk hatte der Jugendliche eine pragmatische Meinung. Es sei eine Arbeit, die besser Maschinen erledigen sollten, statt Menschen damit zu versklaven. Wieder machten sich die Eltern Sorgen um Friedrichs Zukunft. Doch Lists wahres Talent sollte sich bald offenbaren.

1802 fiel die freie Reichsstadt Reutlingen im Reichsdeputationshauptschluss an Württemberg. Verwaltungsleute wurden gebraucht, um die tiefgreifenden Umstrukturierungen zu bewältigen. Durch Verwandte kam List nach Blaubeuren und begann in der dortigen Stadt- und Amtsschreiberei die mittlere Beamtenlaufbahn. Er lebte im Haus des Lehrherrn mit einem weiteren Lehrling zusammen, den er dafür bezahlte, seinen Teil der ungeliebten Hausarbeit mit zu übernehmen. Nach erfolgreich abgeschlossener Lehre wurde List Schreiber an verschiedenen Orten im heutigen Alb-Donau-Kreis und schließlich Aktuar, heute etwa Verwaltungsinspektor, in Tübingen.

In kurzer Folge ereigneten sich drei Unglücksfälle, die den jungen Mann nachhaltig prägten. 1811 stand der Russlandfeldzug Napoleons an, für den Soldaten ausgehoben wurden. „Friedrichs Bruder Johannes erfüllte die Voraussetzungen, sich davon entbinden zu lassen. Doch die nötige Bescheinigung wollte ihm der Reutlinger Amtmann nicht ausstellen“, erzählt Wendler. Beim Ritt zum Militärdepartment in Stuttgart stürzte Johannes vom Pferd und verletzte sich tödlich. Aus Gram darüber verstarb der Vater wenige Monate später. Kurze Zeit danach suchte die Witwe das Oberamt (im heutigen Reutlinger Heimatmuseum) auf, wo Oberamtmann Johann Gottlob Veiel sie schroff abkanzelte und ihr androhte, er werde ihr schon ihren „himmelsakramentischen reichsstädtischen Hochmut austreiben“. Das war zu viel Aufregung für die betagte Dame, sie verstarb an einem Herzinfarkt.

Wie das Schicksal es wollte, wurde Friedrich List, inzwischen Rechnungsrat, 1816 damit beauftragt, den auch vom Innenministerium heftig kritisierten Amtmann Veiel zu überprüfen. Sein Urteil fiel verheerend aus. In diesem Zusammenhang machte List eine Reihe von konkreten Verbesserungsvorschlägen für die städtische Rechnungslegung, die Verschlankung der Bürokratie und die Verschönerung der Stadt.

Von diesem Zeitpunkt an stand List nur noch einmal mit Reutlingen in Verbindung, nämlich als Reutlinger Abgeordneter in der Ständeversammlung. Als solcher befasste er sich 1820/21 mit den Nöten und Anliegen der Reutlinger Bürger und fasste sie in der „Reutlinger Petition“ zusammen. Das scharf formulierte Dokument wurde dem König zugeleitet, der es als Majestätsbeleidigung wertete und drohte, den Landtag aufzulösen, wenn List nicht sofort ausgeschlossen würde. Dies geschah und List erhielt zudem eine zehnmonatige Haftstrafe auf dem Hohenasperg.

Doch Friedrich List erwarb sich unter anderem als Vordenker der sozialen Marktwirtschaft solche Verdienste, dass er am 6. August 1863 in Reutlingen durch ein Denkmal geehrt wurde. Damals ragte es unübersehbar vor dem Bahnhof auf. Heute hält Prof. Wendler den Standort für sehr ungünstig, da das von einem Baum verdeckte Denkmal dort kaum Beachtung finde.

Nach Friedrich List wurden in Reutlingen das List-Gymnasium, der Listplatz, die Liststraße, das Listhaus, die frühere Listhalle und der Listhof benannt. In der Listgesellschaft werden aktuelle Wirtschaftsprobleme im Expertenkreis diskutiert. Im Sommer 2020 entstand im Haus der Wirtschaft der Industrie- und Handelskammer eine sehenswerte Dauerausstellung, in der die umfangreiche List-Sammlung von Eugen Wendler die Biografie und Verdienste Friedrich Lists sehr anschaulich darstellt. Text und Bild: Gabriele Böhm

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Erstellt:
20.01.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 49sec
zuletzt aktualisiert: 20.01.2021, 01:00 Uhr

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