Kalligraphische Anmutung

Gerettete Typografien: Die Nueva vom Kalender

02.12.2020

Das Schild des ehemaligen Döner-Imbiss in der Tübinger Gartenstraße vereint zwei Schriften von Carol Twombly. Bild: Barbara Honner

Das Schild des ehemaligen Döner-Imbiss in der Tübinger Gartenstraße vereint zwei Schriften von Carol Twombly. Bild: Barbara Honner

Eine der schönsten geretteten Aufschriften ist die des ehemaligen Take-away-Restaurants „Kalender“. Achtzehn Jahre lang war das drei Meter breite und beleuchtbare Metall- und Plexiglas-Schild in der Gartenstraße am Beginn der Neckarbrücke von weither sichtbar. Generationen von Schülern und Studenten standen mittags an diesem beliebten Döner-Imbiss Schlange, der 1991 von Ismail Kalender eröffnet wurde und der dritte seiner Art in Tübingen war.

Als der Senior 2001 starb, übernahm dessen Sohn Tuncay die etablierte Gastronomie. Der Vater hatte den Imbiss mit so viel Herzblut betrieben, dass Tuncay Kalender es nicht übers Herz brachte, diesen aufzugeben und seine beruflichen Ambitionen aufgab. Die Kalender-Erfolgsgeschichte endete für alle Tübinger überraschend 2019. „Fastfood, schnell und billig möchte ich nicht mehr“, teilte Tuncay Kalender dem SCHWÄBISCHEN TAGBLATT am 21. Februar 2019 mit.

Wir haben es bei der Kalender-Aufschrift – eine Idee des Tübinger Grafikdesigners Sven Gormsen – mit der Schrift „Nueva“ von Carol Twombly zu tun. 1959 in Concord, Massachusetts, geboren, gehört sie zu den besten Schriftdesignerinnen weltweit. Die Nueva stammt aus dem Jahr 1994 und zeichnet sich durch einen sehr hohen Strichstärkenkontrast aus, was besonders bei den Bögen in Erscheinung tritt. Sie verleihen den Kleinbuchstaben eine feine, kalligraphische Anmutung. Halt geben den an den Schriften der Renaissance angelehnten Buchstaben die wohlproportionierten Serifen (Füßchen).

Begleitet wird die „Kalender“-Aufschrift von der Myriad im Schriftzug „Tag für Tag guten Appetit“. Auch sie stammt aus der Werkstatt von Carol Twombly, erschien 1992 für Adobe und wurde nach ihrem Erscheinen aufgrund ihres vielseitigen Einsatzes schnell zum Liebling von Corporate Design, Schriftgrafik und Layout. Die Myriad, auch Hausschrift der Universitätsstadt Tübingen, gehört zu den humanistischen Grotesk-Schriften und besitzt als solche naturgemäß keine Serifen.

Carol Twombly designte ebenfalls die Trajan, die Logoschrift der Universität Tübingen. Mit der geretteten Kalender-Aufschrift haben wir also das Zeugnis einer Schriftdesignerin, die in Tübingen sehr präsent ist. 1999 aber stieg Twombly aus der Typobranche aus und widmet sich heute lieber der Natur, der Musik, dem Kunsthandwerk und der Meditation. Sie steht für eine Vielzahl genialer und preisgekrönter Schriftgestalter(innen), deren Namen hinter den Schriften verschwunden sind. Barbara Honner

Mit dieser Serie stellen wir Schriften vor, die Barbara Honner vor der Entsorgung gerettet und dem Tübinger Stadtmuseum übergeben hat.

Zum Artikel

Erstellt:
02.12.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 10sec
zuletzt aktualisiert: 02.12.2020, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen