Platz für die Stadt

Häusergeschichten: das Schimpfeck

17.01.2018

Von Andrea Bachmann

Das „Schimpfeck“ am Tübinger Lustnauer Tor ist immer noch ein imposantes Gebäude. Bild: Andrea Bachmann

Das „Schimpfeck“ am Tübinger Lustnauer Tor ist immer noch ein imposantes Gebäude. Bild: Andrea Bachmann

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die Stadtbefestigung Tübingens mit ihren fünf Toren ausgedient. Die Stadt wuchs über ihre selbst gesteckten mittelalterlichen Grenzen hinaus und in den engen Gassen von Ober- und Unterstadt wünschte man sich mehr Luft und Licht. Feinde, die in wilden Horden die Stadt stürmen würden, waren auch keine mehr in Sicht. Deshalb riss man die Stadttore ab, 1829 war das Lustnauer Tor an der Reihe, das auf den Weg nach Lustnau, vor allem jedoch nach Stuttgart führte. Vor dem Abriss wurde es verkauft. Der Medizinprofessor Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth nutzte das Stadttor als Steinbruch und baute daraus gleich nebendran sein Wohnhaus, das 1861 zum Tübinger Gymnasium umfunktioniert wurde. 1901 zog die Schule in einen Neubau in der Uhlandstraße und man riss das Autenrieth’sche Haus ab.

An die Stelle des klassizistischen Vorgängerbaus setzte dann der Stuttgarter Architekt Josef Hennings eine der wenigen Jugendstilvillen in Tübingen: Ein viergeschossiges Haus mit Mansarden und Satteldächern, mit Giebeln und Erkern und Schmuckfachwerk. Besonders beeindruckend ist die mehrstöckige, reich verzierte Holzveranda. Die blauweißen Rauten waren ein zusätzliches, hypermodernes Dekorationselement.

1904 zog die Papier- und Tapentenhandlung von Friedrich Schuler aus der Pfleghofstraße in schönere, größere Räumlichkeiten in dem Haus am Lustnauer Tor. Friedrich Schuler hatte das Geschäft seinem Neffen Fritz Schimpf verkauft. Schon bald nannte man das repräsentative Eckgebäude „Schimpfeck“. Nach seinem Tod gab sein Sohn das begonnene Theologiestudium auf und verkaufte stattdessen Papeteriewaren. Seine Tochter Verena steig noch als Schülerin in den Betrieb ein.

Ende der 1970er-Jahre hätte die Stadt das Haus gerne abgerissen, um einer vierspurigen Stadtautobahn und einem Busbahnhof Platz zu machen. Die Tübinger/innen waren nicht amüsiert. Mit Unterschriftensammlungen, Bürgerinitiativen und Leserbriefen wurde der Abriss verhindert, stattdessen baute der bekannte Tübinger Architekt Heinrich Niemeyer einen Anbau mit einem mehrfach abgesetzten Zeltdach an die Rückseite des Hauses, wo durch den Abriss des Nachbarhauses eine Lücke entstanden war. Der „Schimpf“ erhielt neue Verkaufsräume und in das Erdgeschoss zog eine Bankfiliale ein.

Die oberen Stockwerke des imposanten Gebäudes blieben zunächst leer. Am 5. Mai 1981 besetzte eine etwa 70 Personen zählende Gruppe das Haus, um auf diese Weise gegen den Leerstand und Zweckentfremdung zu protestieren. Die Besetzung durch diese „Schymphoniker“ schlug hohe politische Wellen, mehrere hundert Menschen demonstrierten damals vor dem Gebäude und um fünf Uhr morgens rückten 200 Polizeieinsatzkräfte an, um Haus und Straße zu räumen. Tagelang kam es immer wieder zu unangemeldeten Demonstrationen und heftigen Diskussionen, 500 Menschen nahmen an einem „Marsch ins Rathaus“ teil und im Alten Botanischen Garten campierten protestierende Schüler/innen und Studierende.

Parallel dazu planten die Stadtverwaltung und das Studentenwerk ein Studierendenwohnheim in den beiden oberen Etagen, das bis heute existiert. Andrea Bachmann