Den Horizont öffnen

In der Kunsthalle sind Werke von Birgit Jürgenssen zu sehen

28.11.2018

Kunsthallen-Leiterin Nicole Fritz (links) und Natascha Burger, die die Jürgenssen-Ausstellung mitkuratiert hat. Bild: Andrea Bachmann

Kunsthallen-Leiterin Nicole Fritz (links) und Natascha Burger, die die Jürgenssen-Ausstellung mitkuratiert hat. Bild: Andrea Bachmann

Diese Frau muss Tag und Nacht gearbeitet haben!“ Die Wiener Kunsthistorikerin Natascha Burger ist fasziniert von dem riesigen Oeuvre von Birgit Jürgenssen. Gemeinsam mit der Kunsthallen-Leiterin Nicole Fritz steht sie vor einer Wand voller ebenso beunruhigender wie schöner Zeichnungen. Mit zarten und präzisen Bleistiftstrichen werden Menschen gezeigt, die sich in Tiere verwandeln – oder umgekehrt. Jedenfalls scheint die Grenze zwischen Mensch und Tier und Mensch und Pflanze aufgehoben zu sein. Das Verhältnis von Mensch und Natur ist nur ein Thema der österreichischen Künstlerin Birgit Jürgenssen, deren Werke zur Zeit in der Tübinger Kunsthalle zum ersten Mal außerhalb Österreichs präsentiert werden, bevor die Ausstellung nach Bergamo und ins Louisiana nach Kopenhagen weiter reist.

„Wenn Birgit gemerkt hat, dass sie auf eine Thematik eingegrenzt wird, hat sie sich etwas anderes gesucht. Sie war einfach unglaublich vielseitig, sowohl, was ihre Themen als auch, was ihre Techniken betraf“. Natascha Burger nennt die 2003 im Alter von 54 Jahren verstorbene Künstlerin beim Vornamen, obwohl sie sie nie persönlich kennen gelernt hat. Aber seit zehn Jahren ist sie ihr so nahe wie kaum ein anderer: Burger arbeitet in der Galerie von Hubert Winter, dem Lebensgefährten von Birgit Jürgenssen, und verwaltet ihren Nachlass. „Ich arbeite das jetzt seit 2009 stückchenweise auf. Jedes Blatt bekommt eine neue Karteikarte. Und jeden Tag entdecke ich etwas Neues. Es gibt zum Beispiel noch 10 000 Negative, die wir noch nie angeschaut haben.“

Jedes Jahr eröffnet Hubert Winter seine Galerie mit einer Ausstellung der Werke von Birgit Jürgenssen, um ihr Erbe lebendig zu halten. „Bis jetzt konnten wir immer etwas vollkommen Neues zeigen.“

Die Themenvielfalt in Jürgenssens Werk ist erstaunlich. Aber ob sie sich jetzt mit griechischen Mythen oder Natursymbolik, mit Geschlechterrollen oder Körperprojektionen auseinander setzt, immer geht es um Konstruktion und Dekonstruktion von Identität: „Ich bin.“ Das ist auch der Titel der Tübinger Ausstellung.

Der größte Teil des Werks besteht aus Zeichnungen und Fotografien. Selbstporträts, die die extrem schüchterne Jürgenssen gerne mit einer Polaroidkamera machte, weil sie dann die Bilder nicht nur sofort sehen, sondern sie sich auch den Gang ins Fotogeschäft sparen konnte, in dem wildfremde Menschen ihre verstörend sinnlichen und selbstironischen Fotos gesehen hätten.

In den 80er-Jahren gestaltet sie eine Serie, in der sie Fotografien – eigene und fremde – mit einem Stoff überzieht, der an sehr edle Seidenstrümpfe erinnert. Aber auch fotografische Experimente wie Rayogramme oder Cyanotypien, Relikte aus den Geburtsjahren der Fotografie, die sich in der gegenwärtigen digitalen Bilderflut ungemein kostbar ausnehmen, sind der Stoff, aus dem Jürgenssens Bilderwelten gemacht sind. In denen experimentiert sie mit gesellschaftlichen Zuschreibungen, eignet sich kunsthistorische Motive an und schreibt sie um: Jürgenssen setzt sich bereits auf sehr differenzierte Weise mit Genderthemen auseinander, als man in Deutschland oder Österreich noch über die Abschaffung der Hausfrauenehe diskutierte.

„Birgit Jürgenssen ist einfach unglaublich zeitgemäß“, schwärmt Nicole Fritz. Sie hat während eines Aufenthalts in Wien mit dem Werk der Künstlerin Bekanntschaft gemacht und sich sofort verliebt. „Die Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit ihrer Zeichnungen hat mich so fasziniert, dass für mich feststand: Diese Frau möchte ich sichtbar machen.“

In der Nachlassverwalterin Natascha Burger hat sie eine perfekte Kooperationspartnerin gefunden: „Ich glaube, dass Birgit ganz viel zu bieten hat und einem den Horizont öffnet.“ Andrea Bachmann

Am kommenden Samstag, 1. Dezember, wird Natascha Burger, die Co-Kuratorin der Ausstellung, um 15 Uhr durch die Schau in der Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, führen.