Der Himmel ist noch dunkel

In der Tübinger katholischen Kirchengemeinde Sankt Johannes hängt ein besonderes Fastentuch im Chorr

In der Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag ist in allen katholischen Kirchen das Kreuz im Chorraum nicht zu sehen. Es wird von einem Fastentuch verdeckt.

01.04.2020

Das diesjährige Fastentuch in der Tübinger Johanneskirche ist von dem Künstler Günther Reger gestaltet. Bild: Andrea Bachmann

Das diesjährige Fastentuch in der Tübinger Johanneskirche ist von dem Künstler Günther Reger gestaltet. Bild: Andrea Bachmann

Seit über 30 Jahren bietet das Hilfswerk Misereor solche Fasten- oder Hungertücher an, sodass in den meisten Kirchen das gleiche Tuch hängt. Die Tübinger Kirchengemeinde Sankt Johannes beschloss vor einigen Jahren, eigene Wege zu gehen. „Wir wollten aus dem Fastentuch eine künstlerische Auseinandersetzung innerhalb unserer eigenen Gemeinde machen“, meint Kirchengemeinderat Martin Bertele. Entweder gestaltet jetzt eine Gruppe aus der Gemeinde das Tuch oder wie beauftragen eine Künstlerin oder einen Künstler.“

Wer in diesem Jahr die auch jetzt noch täglich geöffnete Johanneskirche betritt, trifft auf einen riesigen, blau umrandeten, orangefarbenen Halbmond, der sich nach oben ins Dunkle öffnet. Die Farben korrespondieren mit den Chorfenstern. Sie changieren, reflektieren, reagieren auf jede kleine Lichtveränderung in der Kirche.

Das Tuch hat der Künstler und Musiker Günther Reger geschaffen. Er versteht seine Installation als eine Hommage an den Renaissance-Künstler Giovanni Bellini, als einen Brückenschlag zu dessen Altarbild in einer venezianischen Kirche, das Reger im Sommer vergangenen Jahres gesehen hat.

Mit seiner nach oben, zum Himmel geöffneten Kuppel geht es Günther Reger allein um Farbe, Form, Raum – und dessen Entgrenzung. Er möchte einladen zum kontemplativen Nichtstun, zum „geistigen Fasten“.

Dazu verwendet er in der Malerei selten verwendete Leuchtpigmente, die extrem auf Licht reagieren. So wird aus dem Fastentuch eine visuelle Performance, der Wandel der Farben ist ein wichtiger Bestandteil des Werks.

Seit den späten 1970er-Jahren experimentiert Günther Reger mit bildender Kunst und Musik. Ihn interessiert die Spannung zwischen dem utopischen Glauben an die Möglichkeit der Veränderung und den gleichzeitig aufkommenden Ängsten und Zweifeln. Die Tür zu neuen Räumen, neuen Himmeln öffnen – und dann zögern, über die Schwelle zu treten, darum geht es ihm. Auch das Fastentuch setzt sich mit diesem Konflikt auseinander. Der Himmel ist geöffnet – aber er ist (noch) dunkel.

Eigentlich war eine Veranstaltung geplant, eine experimentelle Bildinszenierung mit Musik und Licht. Das fällt nun aus. Aber es ist möglich, sich in die Kirche zu setzen und in diesen sich öffnenden Raum aus Farbe und Licht einzutauchen, in dem Günther Reger das Erhabene und das Göttliche vermutet. Das dauert ein wenig. Aber wir haben ja gerade alle viel Zeit.

„Seitdem das Fastentuch über dem Altar hängt, gehe ich noch lieber in diese Kirche – besonders in der Mittagszeit, wenn die Beleuchtung so schön ist“, hat eine Besucherin in das Gästebuch geschrieben, das in der Johanneskirche ausliegt. Andrea Bachmann

Das Fastentuch von Günther Reger ist noch bis Ostern in der Sankt-Johannes-Kirche, Froschgasse 3, zu sehen.

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Erstellt:
01.04.2020, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 01.04.2020, 01:00 Uhr

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