Mit bloßem Auge, Mathematik und Bindfäden

In einer kalten Winternacht vor 385 Jahren ist der Astronom Michael Mästlin gestorben

21.12.2016

Michael Mästlin war einer der berühmtesten Mathematiker und Astronomen an der Tübinger Universität. Er war zudem der Lehrer von Johannes Kepler.

Michael Mästlin war einer der berühmtesten Mathematiker und Astronomen an der Tübinger Universität. Er war zudem der Lehrer von Johannes Kepler.

Diese Januarnacht ist viel zu kalt, um sie auf dem Dachboden der Kirche zu verbringen. Und er ist mit seinen 78 Jahren viel zu alt, um die steilen Treppen hinaufzusteigen. Die nächsten Tage wird er im Bett zubringen und das Gliederreißen pflegen und die Schwiegertochter wird schimpfen. Gott bewahre ihn vor einem schadhaften Dach, einem zugigen Kamin und einem zänkischen Weib. Er hätte auch um liebenswürdige Schwiegertöchter beten sollen. Und um wohlgeratene Söhne. Einer ist mit einer Geldkatze voller Ersparnisse von daheim fortgelaufen, den anderen hat es zu den Jesuiten getrieben und zwei Kinder sind ihm gestorben. Es tut noch immer weh.

Mittlerweile ist Michael Mästlin in seinem Observatorium auf dem Dachboden der Stiftskirche angekommen. Hier hat er als junger Mathematikrepetent im herzoglichen Stipendium begonnen, den Himmel zu beobachten. Das wird er heute, am 20. Januar 1628, wieder tun. Mästlin richtet die astronomischen Instrumente her, die er heute Nacht benötigen wird, um die erwartete Mondfinsternis zu dokumentieren. Einen Quadranten und einen Jakobsstab, mehr braucht er nicht, mehr hat er auch nicht. Sein Kollege Tycho Brahe hat sich auf seiner Insel im dänischen Meer eine „Sternenburg“ bauen lassen. Mästlin ist Schwabe, ihm reichen seine Augen, seine Mathematik und ein paar Bindfäden, die er auf dem Dachboden der Kirche aufspannt, um das durch die Dachluken einfallende Licht zu peilen. Das genügt ihm, wie es ihm auch genügt hat, dass sein Leben sich seit fast fünfzig Jahren auf den paar Metern zwischen der Burse, der Stiftskirche und seinem Haus in der Burgsteige abspielt. Im Gegensatz zu seinem begabtesten Schüler, dem Johannes Kepler, der weitgereist und weltberühmt gerade mit dem General Wallenstein durch die Lande zieht und ihm die Sterne deutet.

1567, da war er siebzehn und Zögling der höheren Klosterschule in Herrenalb, hatte er zugesehen, wie die Sonne sich verfinsterte. Seitdem hatte ihn nichts mehr so gefesselt wie die Bewegungen der Gestirne. Und die Mathematik. Für die schien er „nicht gemacht, sondern geboren, nicht unterrichtet, sondern eingeweiht zu sein“ hatte ihm ein Professor in eine Empfehlung geschrieben. So brauchte er nicht Pfarrer zu bleiben, obwohl er, Sohn eines Kornmeisters aus Adelberg, zu denen gehört hatte, die der Herzog durch Klosterschule und Stift fütterte, um sie zu Pfarrern zu machen. Im Stift war er zu seinem großen Glück dem berühmten Philipp Apian begegnet, der seine mathematische Begabung förderte und ihn 1575 sogar als seinen Vertreter einsetzte.

1570 hatte er, kurz bevor er zum Magister Artium promoviert wurde, ein Buch gekauft: „De revolutionibus orbium coelestium“ von dem Frauenburger Domherren Kopernikus. Das Buch hat sein Leben verändert und Apian hat es in die richtigen Bahnen gelenkt: 1582 konnte Mästlin dessen Stelle als ordentlicher Professor der mathematischen Wissenschaften in Tübingen übernehmen. Margarethe, seine Frau, hatte sich gefreut, vor allem über das schöne große Haus in der Burgsteige. Fünf Jahre später war sie gestorben und er hatte ein Jahr später wieder eine Margarethe geheiratet, die Tochter seines Kollegen Georg Burckhardt. Ihre kleine Schwester Regina hatte vor ein paar Jahren für einen handfesten Skandal gesorgt, als sie heimlich den Stiftsrepetenten Carl Bardili geheiratet hatte. Mästlin grinst, während er in die frostklare Nacht hinausblickt und zusieht, wie sich der Erdschatten immer weiter über den Mond schiebt.

Auch in dieser Nacht wird es Menschen geben, die vor Angst außer sich sind, weil sie nicht verstehen, was da am Himmel vor sich geht. So wie im November 1572. Da hatte er auf seinem Stiftskirchendach einen besonders hellen und neuen Stern im Bereich der Cassiopeia beobachtet. Er hatte die Position dieses neuen Sterns im Vergleich zu vier Fixsternen bestimmt – mit seinem Bindfadensystem! – und feststellen müssen, dass der Stern in der Fixsternsphäre erschienen, von der Aristoteles und die Kirche behaupteten, dort verändere sich nichts. Ein paar Jahre später, 1575, war es ihm mit einem Kometen ebenso ergangen: Ganz gegen das Reglement zog dieser Komet in der Sphäre oberhalb des Mondes eine Bahn. Dabei sollte das doch der Bereich des Universums sein, in dem sich nie etwas veränderte, wo ewige, göttliche Harmonie herrschte. Aber solche Bereiche gibt es im Himmel nicht und auf Erden schon gar nicht. Nichts ist für immer und unveränderlich. Das haben die Sterne ihm beigebracht.

Mästlin zieht seine Pelze enger um sich herum. Er sollte es lassen, nach Hause gehen und sich ins Bett legen. Aber allzu viele Gelegenheiten wird er nicht mehr haben, solch ein Himmelsschauspiel zu bewundern. Am 20. Dezember 1631 ist der Astronom und Mathematiker Michael Mästlin im hohen Alter von 81 Jahren in Tübingen gestorben.

Andrea Bachmann

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Erstellt:
21.12.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 21.12.2016, 01:00 Uhr

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