„Wir wollen solidere Daten zum Corona-Krankheitsverlauf“

Interview mit Dr. Jens Fleischer über Abwasserproben und Coronaviren

Im Abwasser von Kläranlagen können Coronaviren nachgewiesen werden. Denn wer mit Corona infiziert ist, scheidet bei jedem Stuhlgang Viren aus.

27.04.2022

Interview mit Dr. Jens Fleischer über Abwasserproben und Coronaviren

Abwasseruntersuchungen auf Coronaviren haben einen großen Vorteil gegenüber Coronatests: Sie zeigen deutlich früher an, wie hoch die Anzahl der Infizierten möglicherweise ist – bis zu zwei Wochen vorher. Abwasseruntersuchungen könnten deswegen ein Frühwarnsystem für Covid-Infektionen sein.

Von Mitte Dezember 2021 bis Mitte März 2022 haben die Universitätsstadt Tübingen und das vor Ort ansässige Eurofins Institut Jäger an der Tübinger Kläranlage Daten zur Corona-Viruslast erhoben. Der TAGBLATT ANZEIGER hat mit Dr. Jens Fleischer vom Landesgesundheitsamt (LGA) darüber gesprochen.

Herr Fleischer, aus der Tübinger Kläranlage werden Proben entnommen. Was genau machen Sie da?

Jens Fleischer: Da muss man erst mal zwei Dinge trennen: Das, was die Stadt Tübingen seit Dezember zusammen mit der Firma Eurofins untersucht hat, hat nichts mit dem derzeit laufenden Projekt zu tun, welches wir im LGA bearbeiten. Die Stadt Tübingen hatte die Firma Eurofins beauftragt, Abwasserproben aus der Kläranlage zu untersuchen. Die Ergebnisse davon wurden bislang in einer sogenannten Ct-Wert-Tabelle auf der Website der Stadt veröffentlicht.

Und was macht das LGA?

Wir sind Teil eines bundesweiten Projektes. Der offizielle Titel lautet „Systematische Überwachung von SARS-CoV-2 im Abwasser“. Das Projekt wird von der EU und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert und wir arbeiten dabei mit dem Projektträger PTKA im Forschungszentrum Karlsruhe zusammen.

Konkret sieht das so aus: In ganz Deutschland werden an 20 Standorten Abwasserproben entnommen. Dabei wurde darauf geschaut, alle möglichen Arten von Kläranlagen dabei zu haben: große, kleine, verschiedene Arten der Stadtentwässerung, getrennte Kanalisation oder Mischkanalisation, Städte mit oder ohne Pendlereinströme etc.

In Baden-Württemberg haben wir sogar zwei Standorte: die Stuttgarter Hauptkläranlage und die Tübinger Kläranlage. Wir haben Ende Februar damit begonnen, Abwasserproben zu entnehmen, jede Woche zwei Mal, dienstags und donnerstags.

Am Ende wollen wir solidere Daten zum Corona-Krankheitsverlauf erhalten. Wir führen hier im Labor die Analytik dazu nach entsprechenden Vorgaben des Projektkoordinators durch. Das Projekt soll unter anderem nachher eine Handreichung für die Gesundheitsämter ermöglichen, wie man mit den erhobenen Daten umgehen soll. Das wird voraussichtlich Ende des Jahres 2022, Anfang 2023 sein.

Wo werden die Daten der Probeentnahmen veröffentlicht?

Es ist momentan nicht vorgesehen, diese Daten im laufenden Projekt zu veröffentlichen. Das Projekt dient vielmehr dazu, das bisherige Wissen aus den Abwasseruntersuchungen zu konkretisieren und Werkzeuge zu schaffen, die eine bessere Interpretation der Ergebnisse ermöglichen.

Natürlich werden die Daten nach Ablauf des Projekt publiziert und sie sollen zukünftig auch den Gesundheitsämtern vorgelegt werden. Ein Erkrankungsgeschehen und etwaige Trends in dessen Verlauf nur mit reinen Konzentrationsangaben im Abwasser darzustellen ist nach heutigem Wissen nicht möglich.

Man kann diese Daten nicht 1:1 übernehmen, also zum Beispiel den Ct-Wert der Proben ermitteln und direkt in eine Grafik umsetzen. Da kann man vielleicht Veränderungen der Viruslast feststellen. Um aber mit den Abwasserdaten wirklich etwas anfangen zu können, müssen sie normiert werden. Und dafür muss man zusätzliche Abwasserparameter betrachten.

Was für Abwasserparameter sind das?

Es kommt zum Beispiel darauf an, wie und wo Sie eine Probe in der Kläranlage entnehmen. Im laufenden Projekt werden nur mengenproportionale 24-Stunden-Mischproben in den Zuläufen der Kläranlagen entnommen.

Man muss auch das Einzugsgebiet einer Kläranlage und die „Qualität“ des zufließenden Abwasser mit berücksichtigen. Stuttgart zum Beispiel hat circa 180 000 Einpendler und sein Hauptklärwerk wird von fünf umliegenden Landkreisen mit Abwasser beaufschlagt. Tübingen bezieht sein Abwasser im Wesentlichen aus der Kernstadt und den Ammerbuchgemeinden. Das alles beeinflusst die Virusanalytik und natürlich die ermittelten Ergebnisse. Diese Einflüsse lassen sich teilweise durch zusätzliche chemische und physikalische Parameter, die parallel zu den reinen Virusdaten erhoben werden, abbilden.

Wenn Sie sich mit Abwasserproben und Viren befassen, heißt das, dass Sie Biologe sind?

Ja, ich bin Mikrobiologe und leite das Sachgebiet für Wasserhygiene nebst Labor im Landesgesundheitsamt in Stuttgart.

Ich habe mich schon während meiner Dissertation am Hygiene-Institut der Universität Tübingen mit dem Nachweis verschiedener enteropathogener Viren aus Abwasser (Noro- , Adeno- und Enteroviren sowie Polioviren) beschäftigt.

Es gibt momentan auch schon Überlegungen, aus den Abwasserproben weitere pathogene Viren zu untersuchen. Abwasser ist ein ganz guter Vorhersage-Gegenstand. Polioviren zum Beispiel hat man früher, zu Zeiten der „Lebendvaccine“, regelmäßig im Abwasser gefunden. Das könnte zukünftig wieder der Fall sein, in manchen Ländern nehmen die Meldungen über Polioerkrankungen wieder zu.

Unser Labor ist mit allen Bereichen der „Wasserhygiene“ im Land beschäftigt. Neben Trinkwasser, Wasser aus Schwimm- und Badebecken untersuchen wir auch Wasser aus Flüssen oder aus Baggerseen.

Fragen: Angelika Brieschke

Das Projekt der Stadt Tübingen mit der Firma Eurofins ist seit Mitte März beendet. Die Stadt erklärt dazu auf ihrer Homepage folgendes:

„Von Mitte Dezember 2021 bis Mitte März 2022 haben die Universitätsstadt Tübingen und das vor Ort ansässige Eurofins Institut Jäger an der Tübinger Kläranlage Daten zur Corona-Viruslast erhoben. Ziel war es, die Entwicklung der fünften Infektionswelle besser abzuschätzen. (…)

Seit Mitte März 2022 setzt ein anderer Anbieter die Messungen im Auftrag des Landesgesundheitsamtes fort.“

https://www.tuebingen.de/

31785.html#/35411

Dr. Jens Fleischer ist Mikrobiologe und leitet das Sachgebiet „Wasserhygiene“ beim Landesgesundheitsamt. Bild: LGA

Dr. Jens Fleischer ist Mikrobiologe und leitet das Sachgebiet „Wasserhygiene“ beim Landesgesundheitsamt. Bild: LGA