Kaugummi und Kuschelkapsel

Wer genau hinsieht, findet in Zürich jede Menge Street-Art. In der Vorweihnachtszeit wird Kunstfans noch mehr geboten – inklusive einer Nacht in Hotelzimmern, die von lokalen Künstlern gestaltet wurden.

27.11.2021

Von Susanne Hamann

“Melody“ ist ein Werk des Zürcher Künstlers Patrick Wehrli alias Redl.  Fotos: Cati Futterer

“Melody“ ist ein Werk des Zürcher Künstlers Patrick Wehrli alias Redl. Fotos: Cati Futterer

Manche Kunstwerke sind so klein, dass sie leicht übersehen werden. Die Bilder von Ben Wilson zum Beispiel haben das Format von Zwei-Euro-Stücken und kleben auf Asphalt. „Der Brite bemalt Kaugummis, die er auf der Straße findet. Er protestiert so gegen Umweltverschmutzung“, sagt Barbara Dörig. Die Kunsthistorikerin ist Expertin für Street Art und arbeitet in Zürich als Gästeführerin.

Eines von Ben Wilson mit feinstem Pinselstrich in stundenlanger Arbeit auf platt gedrückten Kaugummis gemalten Bildern klebt auf der Treppe zum Hauptgeschäft der Firma Freitag. Hier kann man nicht nur die berühmten Taschen aus recycelten LKW-Planen kaufen.

Das Gebäude aus übereinandergestapelten Überseecontainern ist selbst sehenswert. Ganz oben befindet sich eine Aussichtsplattform, von der man weit blickt: in der Ferne die Altstadt mit den Zwillingstürmen des Grossmünsters, zu Füßen das hippe Geroldstraßen-Areal. „Zürich ist so facettenreich - auf der einen Seite traditionell, auf der anderen Seite jung und innovativ“, sagt Barbara Dörig.

Am liebsten geht oder radelt sie mit Besuchern durch Zürich-West, so nennt sich das Areal im Zwickel zwischen den vielspurigen Gleisen, die zum Hauptbahnhof führen, und dem Fluss Limmat. „Als ich ein Kind war, befanden sich hier Industriebetriebe wie Maschinenbauer, eine Brauerei, die Kehrichtverbrennung oder eine Molkerei“, sagt die 60-Jährige. „Inzwischen haben sie fast alle entweder Pleite gemacht oder wurden umgesiedelt.“ Kunstschaffende und Kleingewerbe haben sich in dem Quartier angesiedelt. Dazu gibt es viele Clubs wie das Helsinki, betrieben von Tom Rist, dem Bruder der Schweizer Videokünstlerin Pippilotti Rist. An vielen Ecken sieht man Street-Art, immer wieder entdeckt Barbara Dörig etwas Neues.

Manche Kunstwerke sind so groß, dass man sie gar nicht übersehen kann. „Melody“ nennt sich ein Wandgemälde von Patrick Wehrli alias Redl. Ein Mädchen, bekleidet mit einem gelben Ostfriesennerz in einem überdimensionalen Papierboot mitten in schwerer See. Das 24 mal 12 Meter große Mural bedeckt die komplette Hauswand des Gebäudes in der Limmatstraße 291. Ebenfalls von weit her sichtbar ist eine andere junge Dame: die knapp sechs Meter hohe, chromglänzende Figur „Anne-Sophie“ von Alex Hanimann in der Pfingstweidstraße.

„Zürich ist eine Kunststadt. Hier gibt es nicht nur bedeutende Museen wie das Kunsthaus, sondern auch viele öffentlich zugängliche Werke“, sagt Barbara Dörig. Mehr als 1300 seien es, von der Graffitizeichnung über Denkmäler bis zu Brunnen. Warum das so ist? „Es gibt ein Gesetz, dass bei Neubauten und Renovierungen von städtischen Anwesen ein bestimmter Prozentsatz in Kunst investiert werden muss“, erklärt die Stadtführerin.

Manche Kunstwerke sind so vergänglich, dass man sich beeilen muss, um sie zu sehen. Seit den 1970er Jahren sprüht Harald Naegeli markante Strichmännchen an Züricher Hauswände. Was heute als Kunst gilt, empfanden die Bürger damals als Schmiererei. 1982 floh der „Sprayer von Zürich“ sogar nach Deutschland, um einer Gefängnisstrafe wegen Sachbeschädigung zu entgehen. Kurz darauf stellte er sich jedoch und trat die Haft an. Inzwischen ist der Schweizer Street-Art-Pionier etabliert. 2019 durfte er eine Wand im Karlsturm des Zürcher Grossmünsters besprühen, ein Jahr später erhielt er den Kunstpreis seiner Heimatstadt - Anzeigen hagelt es aber immer noch. Und manche Zürcher greifen auch nach wie vor zum Hochdruckreiniger.

„Seine letzte große Arbeit namens ,Totentanz‘ umfasste 50 Bilder, nur elf sind noch da“, erzählt Manuela Hitz, die künstlerische Leiterin des Musée Visionnaire. Das kleine Privatmuseum am Predigerplatz zeigt derzeit eine andere Seite von Naegeli: Die Arbeiten namens „Urwolken“ bestehen aus Abertausenden von feinsten Linien und sind das Ergebnis von vielen Monaten akribischer Arbeit. Ein krasses Gegenstück zu Naegelis Sprühbildern, die in nur wenigen Sekunden entstehen.

Bewusst vergänglich sind die Kunstwerke des Projekts „Hotel Noël“. In zehn Hotels in der Stadt haben Kunst-Kollektive, Illustratoren, Designer und Videokünstler kreative Welten geschaffen, in die die Gäste eintauchen dürfen. Zehn Künstler haben je einen Raum gestaltet. Die Zimmer des Pop-up-Projekts sind bis Weihnachten buchbar. Eines der bewohnbaren Kunstwerke auf Zeit befindet sich im 25Hours Hotel Langstrasse.

Hoteldirektor Lukas Meier schließt die Tür zu Zimmer 22 auf. Statt urbanen Schicks mit Sichtbeton und Eisenregalen dominiert hier Textil. Samtige Vorhänge, ein flauschiger Teppichboden. Auf der Fensterbank liegen Kissen, daneben stehen Lavalampen und ein künstliches Weihnachtsbäumchen. Die Kuschelkapsel hat Nadja Stäubli alias Schoenstaub gestaltet. „Wir wollten einen Hauch 70er-Jahre-Weihnachten zaubern“, sagt die Künstlerin. „Schoenstaub hatte völlig freie Hand. Nur wenn sie die Dusche ausgebaut hätten, hätte ich protestiert“, sagt Lukas Meier.

Zürich

Unterkunft

Bis zum 26. Dezember läuft das Pop-up-Projekt „Hotel Noël“. In zehn Zürcher Hotels gibt es je ein Zimmer, das von einem Künstler

gestaltet wurde. Infos und Buchung unter www.noelzurich.com. An dem Projekt beteiligt ist u. a. das 25Hours Hotel Langstrasse - eine kunstsinnige Adresse: Das von Werner Aisslinger designte Haus beschäftigt eine Kuratorin, die regelmäßig Künstler einlädt, im Hotel zu

leben und im hauseigenen Atelier zu arbeiten. Beim Hotel Noël arbeitet 25Hours mit der

Textildesignerin Nadja Stäubli zusammen

(www.schoenstaub.com). DZ ab 220 Euro,

www.25hours-hotels.com.

Im Luxus-Boutique-Hotel Storchen gibt es derzeit ein von Grafiker, Fotograf und Musiker Alain Kupper (www.kupper-modern.com)

dekoriertes Zimmer. DZ/F ab 600 Euro,

www.storchen.ch. Im Hotel Marktgasse wiegen die Fabelwesen des Illustrators Philipp Dornbierer alias Yehteh (https://yehteh.com) die Gäste in den Schlaf. DZ ab 390 Euro,

www.marktgassehotel.ch.

Essen und Trinken

Loft Five ist eine coole Location im trendigen Europaviertel, www.loftfive.ch. Rustikal und dennoch schick ist die französische Brasserie: AuGust in der Altstadt, www.widderhotel.com/de/essen-trinken/boucherie-august Im

Restaurant Kronenhalle hängt eine Kunstsammlung mit Werken von Picasso oder Miró, https://kronenhalle.com/

Aktivitäten

Kunstführungen mit Barbara Dörig kann man bei Zürich Tourismus buchen. Zwei Stunden kosten ab 43 Franken (42 Euro). Das Musée

Visionnaire zeigt eine Ausstellung zum Werk des Graffitikünstlers Harald Naegeli, Eintritt

10 Franken (9,50 Euro), www.museevisionnaire.ch.

Infos zu Kaugummi-Bildern von Ben Wilson: www.museevisionnaire.ch/ben-wilson/

Wo sich Bilder von Harald Naegeli finden,

erfahren Sie unter https://sprayervonzürich.com/karte/raum/Zürich.

Allgemeine Informationen

www.zuerich.com

So groß wie ein Zweieurostück sind die Zeichnungen von Ben Wilson. Der Brite bemalt Kaugummis, die er auf der Straße findet.

So groß wie ein Zweieurostück sind die Zeichnungen von Ben Wilson. Der Brite bemalt Kaugummis, die er auf der Straße findet.

Kaugummi und Kuschelkapsel

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27.11.2021, 06:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 27.11.2021, 06:00 Uhr

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