Aus der Luft und zu Fuß (35)

Kiebingen

27.06.2018

Von Andrea Bachmann / Bilder: Erich Sommer

Kiebingen

„Dieses Tal dürfte zu den schönsten in Württemberg zu zählen sein, und wenn jene von Cannstatt und Heilbronn größer in ihren Ausdehnungen und reicher in Fernsichten sind, so dürfte dieses den Preis der Anmut und Freundlichkeit, gepaart mit Reichtum und der herrlichsten Fruchtbarkeit erringen.“ Der Verfasser der Oberamtsbeschreibung aus dem 19. Jahrhundert gerät angesichts der Umgebung von Kiebingen regelrecht ins Schwärmen.

Noch heute kann man ihm Recht geben: Auf beiden Seiten des Neckars befinden sich Naturschutzgebiete, deren Mischung aus Wasser, Wald und Wiesen nicht nur schön anzusehen, sondern auch ein wichtiger Lebensraum für alle möglichen Vögelarten ist.

Dass es hier so schön und anmutig ist, liegt nicht zuletzt an der großangelegten Neckarbegradigung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das vorderösterreichische Hohenberg wollte die Orte Kiebingen, Bühl und Hirschau mit dieser Flusskorrektur vor Überschwemmungen bewahren. Ab 1779 wurden die Pläne unter der Leitung des hohenbergischen Landvogts Anton von Blanc umgesetzt und 1786 konnte das neue, sieben Kilometer lange kanalisierte Flussbett mit einem großen Volksfest gefeiert werden. Ganz billig war diese Baumaßnahme nicht: Stolze 34 564,43 Gulden hatte sie gekostet. Aber man hatte auf diese Weise auch Land gewonnen, dass sich verkaufen und landwirtschaftlich nutzen ließ und konnte so die Baukosten wieder einspielen. Noch heute bestimmt die damalige Begradigung die Neckarufer von Kiebingen bis nach Hirschau.

Der gezähmte Fluss brachte Kiebingen aber nicht nur Land, sondern auch Energie. Die 1898 gegründete Rottenburger Filiale der Uhrenfabrik Junghans & Haller aus Schramberg betrieb für ihre elektrischen Maschinen seit 1903 ein eigenes Kraftwerk, das auch heute noch Strom produziert.

Wer durch diese schöne Landschaft radelt, radelt mitten durch die Archäologie. Die älteste Urkunde, in der der Ort erwähnt wird, stammt zwar erst von 1204, aber schon im 6. Jahrhundert ließen sich Menschen hier nieder, wie Grabfunde belegen. Die werden in die in dieser Zeit entstandene Sülchenkirche gegangen sein, denn eine Marienkapelle wird in Kiebingen zum ersten Mal 1312 erwähnt. Ein Teil davon ist noch in der alten gotischen Kirche zu sehen. Die erschien den Kiebingern 1961 zu klein und zu unmodern und sie bauten sich die neue Heilig-Geist-Kirche. Der alte gotische Chorraum der Marienkirche mit seinem schönen Kreuzrippengewölbe und seiner 2010 restaurierten Deckenmalerei dient seitdem als Gottesdienstraum, das Kirchenschiff wurde zum Gemeindesaal umfunktioniert.

Seit den 1970er-Jahren gilt Kiebingen als best erforschtes Dorf Deutschlands: Der Tübinger Volkskundler Utz Jeggle machte es in den 70er-Jahren zum Gegenstand seiner Habilitationsschrift und entwickelte am Beispiel von Kiebingen Thesen, wie sich Menschen ihre Umwelt einrichten und wie diese Umwelt wiederum die Menschen beeinflusst. Andrea Bachmann / Bilder: Erich Sommer

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Erstellt:
27.06.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 22sec
zuletzt aktualisiert: 27.06.2018, 01:00 Uhr

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