Der Kommentar
Kleist ohne Kleider
Da habe er doch neulich auf Instagram Bilder von auf dem Tübinger Marktplatz nackt Tanzenden zu sehen bekommen, erzählte mir ein jüngerer Kollege. „Historische Bilder, von Club-Voltaire-Festivals“ – ein leiser Unterton der Entrüstung war da nicht zu überhören. Und der war auf mich gerichtet. Weil mein Kollege mich da altersmäßig irgendwie mitten drin verortete.
Nun ja. An Nackt-Tänze bei Club-Voltaire-Festivals kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern, aber ansonsten: Doch ja, es stimmt, so war‘s. Die Graswurzel-Gründer-Generation vor 40, 50 Jahren nutzte jede passende und unpassende Gelegenheit dazu, sich zu entkleiden. Zumindest kam es mir damals als beobachtende Jüngere so vor. Nackt war gut, wenn nicht gar revolutionär.
In die Sauna gehen war in, Nacktbaden in Baggerseen auch, „oben ohne“ sowieso. Damals gab es auch im Tübinger Freibad einen entsprechenden Bereich, hinten links – komplett ohne Hecken-Sichtschutz. In südlichen Urlaubsländern sorgten barbusige Deutsche am Strand regelmäßig für konfliktreiche Irritationen zwischen Einheimischen und textilunwilligen Touristinnen und der allgegenwärtige Drang zum Ausziehen machte auch vor der Hochkultur nicht Halt.
Kein ernst zu nehmendes Theaterstück kam damals ohne einen nackten Mann aus. Gefühlt entkleidete sich eigentlich immer irgendein Schauspieler auf offener Bühne, egal, ob’s passte oder nicht. Die geneigte Zuschauerin verirrte sich in den Überlegungen, was einem der Regisseur damit sagen wollte und das Maß war voll, als im Tübinger Landestheater auch ein Kleist-Klassiker unter die Zeitgeist-Räder geriet: Im „Käthchen von Heilbronn“ von 1982 riss sich Graf Wetter vom Strahl Rüstung und Kleider vom Leib und rannte splitternackt von rechts nach links über die Bühne. Aha.
Oder vielmehr: Wieso? Der Graf vom Strahl als „neckischer Nackedei“ (so der damalige TAGBLATT-Kritiker) war eigentlich nur unpassend. Als nackter Kleistheld hätte meinem Klassikerverständnis nach höchstens die Memme Prinz Friedrich von Homburg getaugt, so oft wie der unpassend in Ohnmacht fiel.
Aber, was wollte ich eigentlich sagen? Ach ja: Früher war auch nicht alles besser.