Der Kommentar

Kollabierende Infrastruktur

08.09.2021

Von Angelika Brieschke

Der Reiseplan von der Nordseekante nach Tübingen mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Ostfrieslandbus und Deutsche Bahn) war – positiv betrachtet – sportlich: Neuneinhalb Stunden Reisezeit mit sechs Verkehrsmittelwechseln und Umsteigezeiten von 7 bis 20 Minuten.

Aus der Bahn geworfen hätte uns fast schon der 3. Wechsel nach gerade mal zwei Stunden Fahrt: Der nördliche Regionalexpress nach Oldenburg hatte 10 Minuten Verspätung, wir nur 11 Minuten Umsteigezeit und die Fahrtstrecke wies eine Baustelle auf. – Mit einem Spurt quer über den Bahnsteig ging es gerade nochmal gut. Nachdem wir drei Mitreisende von unseren reservierten Plätzen vertrieben hatten, hatten wir sogar für zwei Stunden eine relativ entspannte Zugreise.

Da waren wir auch noch weit von der Stelle im Fahrplan entfernt, die mir seit mehreren Tagen Verkehrsmittel-Rätsel aufgab. Mitten im Urlaub hatte mich per Mail eine Fahrplanänderung der DB erreicht: Die Direktverbindung von Stuttgart nach Tübingen war nicht mehr existent – spätabends in einer Samstagnacht mitten in den Sommerferien! Die sonst mögliche Alternativ-Verbindung über Herrenberg und die Ammertalbahn war (und ist) in den Sommerferien ebenfalls nicht vorhanden. Stattdessen schickte uns die Bahn über Gärtringen – mit Ausstieg ebendort und nächtlicher Suche nach einem Schienenersatzverkehr nach Tübingen.

Gärtringen – das war mir bisher nur von der skurrilen Linksabbiegespur auf seiner Autobahn bekannt und in jüngster Zeit durch einen Schlachthof, der wegen außergewöhnlich grausamer Tierquälereien beim Schlachten in die Schlagzeilen geraten war. Nichts, was einen wünschen lassen würde, dort gegen 23 Uhr mitten im Dunkeln nach einem Park-and-Ride-Parkplatz am Bahnhof zu suchen.

Als Geographie-Niete quälte mich zudem die Frage: Liegt das überhaupt auf dem Weg von Stuttgart nach Tübingen? Ich vereinbarte einen Abholservice in Stuttgart mit Freundin und Auto und war darüber doppelt froh, als einen Tag vor Rückreise eine zweite Fahrplan-Änderung der DB in mein Mailfach trudelte: Zusätzlich zum Umstieg in Gärtringen käme nun noch ein Umstieg in Stuttgart-Vaihingen dazu mit halbstündiger Wartezeit am nächtlichen Bahnhof in Vaihingen. Die Fahrtzeit von Stuttgart nach Tübingen erhöhte sich so von einer auf zwei Stunden und die Umsteigeanzahl von sechs auf acht.

Als die Freundin uns dann an irgendeinem Vorgleis in Stuttgart – einen Bahnhof gibt’s da ja grad nicht – abholen kam, schaffte sie das nur mit Verspätung: Die Weinsteige war für den Autoverkehr gesperrt. Da wurde mir schlagartig klar, dass hinter dem scheinbaren Kollabieren der öffentlichen Verkehrs-Infrastruktur ein großer Plan steckt: Wir alle sollen einfach für immer zu Hause bleiben.

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Erstellt:
08.09.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 17sec
zuletzt aktualisiert: 08.09.2021, 01:00 Uhr

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