„Am besten kann ich Molly“

Lia Kayser trainiert seit März für das Kindermuscial „Annie“ in Stuttgart

08.08.2018

Zuhause kurz vor der Abfahrt: Schnell nochmal das neue Lied üben..

Zuhause kurz vor der Abfahrt: Schnell nochmal das neue Lied üben..

„Also, in der Tasche habe ich Steppschuhe, Jazzdance-Schuhe, das Textbuch, das Liederbuch, eine Trinkflasche und ein Vesper“, zählt Lia auf. Es ist Samstagvormittag und wir sind mit dem Auto unterwegs nach Stuttgart-Vaihingen – zu Lias Training in der Stage Academy, einer Musicalschule, in der Tanz, Gesang und Schauspiel unterrichtet wird.

Anfang des Jahres hatte die Stage Academy in Stuttgart ein Casting für das Kindermusical „Annie“ durchgeführt für insgesamt sieben Mädchen- und zwei Jungenrollen im Alter zwischen acht und 14 Jahren. Lias Mutter, die wusste, dass ihre Tochter gerne mal bei einem Musical mitmachen wollte, hatte darüber in der Zeitung gelesen und es ihr erzählt. Für Lia stand sofort fest, dass sie da dabei sein will. Und nicht nur sie: Mehrere hundert Kinder haben sich beworben, 50 wurden genommen. Lia Kayser aus Tübingen ist eine davon. Und sie ist vermutlich diejenige mit der weitesten Anfahrt. Die meisten „Annie“-Kinder kommen aus Stuttgart direkt oder aus der näheren Umgebung.

Lia und ihr Vater machen die Tour nach Stuttgart seit März jede Woche zwei Mal – seit Lia das Casting für „Annie“ bestanden hat. Jede Woche ist am Mittwochnachmittag und am Samstag- oder Sonntagvormittag Training, in den Ferien noch öfters. Klar sind die beiden da inzwischen sehr routiniert: Die 10-jährige Lia hat ihre riesige Tasche selbst gepackt und zum Auto geschleppt, währenddessen hat ihr Vater Laptop, Schreibzeugs, Zeitschrift, Pfandflaschen, Einkaufsliste und und und zusammengesucht. Das Training von Lia dauert drei, manchmal vier Stunden und damit er nicht zwei Mal von Tübingen nach Stuttgart und zurück fahren muss, versucht er, dort die Zeit sinnvoll zu nutzen. Arbeiten, den Wocheneinkauf erledigen, lesen. Beim Stichwort „Vesper“ schreckt er kurz auf. „Hättest Du ein Vesper gebraucht?“, fragt er und reicht gleich mal seinen Geldbeutel nach hinten, damit sich Lia ein paar Euro rausnehmen kann. In der Musicalschule gibt es eine Minilounge mit einem Automaten.

Normalerweise würde jetzt im Auto die Musik von „Annie“ laufen, erklärt der Vater. Diesmal aber sitzt eine neugierige Redakteurin auf dem Beifahrersitz und stellt jede Menge Fragen: „Ist Dir das nicht zu viel, zwei Mal in der Woche nach Stuttgart so neben der Schule und deinen Hobbies?“ – „Ich find‘s nicht zu viel“, sagt Lia entschieden.

„Was magst Du denn am liebsten bei dem Training?“ – „Singen und schauspielen, beim Steppen tue ich mir etwas schwer.“

„Ist schon festgelegt, welche Rolle Du spielst?“ – „Ich hab‘ drei Rollen – Tessie, Molly und Kate. Am besten kann ich Molly.“

„Drei Rollen?“ – „Jedes Kind spielt praktisch drei Rollen. Das ist schon ziemlich viel Text.“

Jedes Kind drei Rollen – da wird klar, was für eine Logistik für dieses Musical mit den insgesamt neun Kinderrollen notwendig ist. Aus Kinderschutzgründen darf jedes Kind nur eine bestimmte Anzahl an Aufführungen spielen und jede Rolle muss nicht nur einmal besetzt sein, sondern pro Aufführung auch im Fall der Fälle vertreten werden können. Wie die Kinder sich die verschiedenen, zum Teil aber auch recht ähnlichen Rollen merken und auseinander halten können – das kann man sich kaum vorstellen. Lia allerdings – sagt sie – findet das gar nicht so schwierig.

Kurz vor 10 Uhr in Stuttgart kommen wir in ein ziemliches Gewusel in der Musicalschule: ein langer, heller Gang mit jeder Menge Türen und ganz vielen Kindern. Heute sind alle „Annie“-Kinder da, was nicht so oft vorkommt, normalerweise wird in kleineren Gruppen trainiert. Aber heute ist ein wichtiger Tag, denn heute ist die erste „Standprobe“. Dabei sollen alle Kinder eine Musicalszene komplett durchspielen – vor dem Regisseur, dem Choreographen und allen Trainer/innen. Es ist das letzte Wochenende vor den Trainingsferien und die Musicalmacher wollen sich einen Eindruck darüber verschaffen, wo welches Kind steht: Wo es gut ist oder wo es eventuell noch mehr Übung braucht. Ende August geht es in die heiße Phase. Da wird dann während der Ferien zwei Wochen lang täglich trainiert. Und da auch schon am eigentlichen Aufführungsort, im Wizemann in Stuttgart. Am 20. September ist Premiere.

Aber jetzt, heute, geht es erst mal schnell noch in die Umkleide, auf die Toilette und dann im Gang nach ganz hinten in den großen Saal: Hier werden die Kinder von der Theaterpädagogin Katharina Hössle und der Stuttgarter Geschäftsführerin Alexandra Bode empfangen. Die Theaterpädagogin gibt sich erst mal streng: „Wer ohne Jazzschuhe kommt, kann gleich wieder gehen.“ Und: „Wer spricht, geht raus. Wir haben keine Zeit mehr für Gequatsche.“ Da merkt man: 50 Kinder zu bändigen, geht nicht ohne klare Ansage. Dafür ist auch wichtig zu wissen, wer überhaupt da ist: Namensappell und dann beginnt ein halbstündliches Aufwärmen. Zunächst im Kreis mit „Sipp-Sapp-Boing“, ein schnelles Reaktionsspiel. Danach mit einfachem Durch-den-Raum-Laufen und auf Kommando in der Bewegung einfrieren: „Freeze“. Eine halbe Stunde ist schnell vorbei und die Kinder werden in Gruppen aufgeteilt, so dass jede Bühnenrolle einmal dabei ist.

Die Gruppen verteilen sich, Lia ist mit ihrer in Raum 5. Dort sollen sie die Szene, die sie nachher vorspielen sollen, alleine durchproben. Ohne einen einzigen Erwachsenen. Na, da bin ich gespannt. Und schnell beeindruckt: Es klappt überraschend gut. Musicalkinder scheinen sehr diszipliniert zu sein. Sie singen mehrmals die Lieder „N.Y.C.“ und „Hooverville“, steppen dazu, proben die Waisenhaus-Anfangsszene. Lias Vorschlag, doch ein Mal durchzuproben, ohne dass jemand verbessert, klappt allerdings nicht. Immer findet jemand einen Fehler: „Du musst auch aufstehen.“ – „Nein, das sagt Duffy.“ – „Er sagt vier, dann sagst Du ...“ – „Jetzt kommst Du.“

Nach einiger Zeit schaut dann doch eine Erwachsene nach dem Rechten: Alexandra Bode kommt rein und bringt gleich mal einige auf Trab. „Auf der Bühne sitzt Du nicht. Schaut nicht auf den neben Euch, sondern nach vorne – da ist das Publikum, für das spielt Ihr.“ Die Gruppe in Raum 5 ist noch nicht dran mit dem großen, kleinen Auftritt im Saal. Da heißt es erst mal: weiterüben, alleine. So geht es auch den meisten anderen Gruppen. Auf dem Gang ist ein irrwitziges Durcheinander zu hören: lautes Steppgeklacker, Türe auf, Türe zu, Kindergerenne, ein Tenor und dann sogar das Lied, das jeder liebt, der das Musical gesehen hat: „It’s a hard knock life“.

Und auf der Tür zum Saal steht zwar nicht wirklich, aber gefühlt sehr deutlich geschrieben: „Bitte nicht stören! Künstler bei der Arbeit.“ Angelika Brieschke

Karten für das Musical gibt unter der Ticket-Hotline 0711-8825-7662 oder unter www.annie-das-musical.de/

Worum geht es in „Annie“?

„Annie“ ist ein 11 Jahre altes Waisenkind, das während der Weltwirtschaftskrise in New York lebt – bei einer sehr bösen Waisenhausleiterin. Da erhält Annie die einmalige Chance, das Weihnachtsfest bei dem reichen, griesgrämigen Multimilliardär Mr. Warbucks zu verbringen. Der ist nach kurzer Zeit von der lebenslustigen und liebenswerten Annie so begeistert, dass er sie direkt adoptieren möchte. Da tauchen Annies vermeintlich „echte“ Eltern auf.

Das Kindermusical hatte am 21. April 1977 Premiere in New York, die deutschsprachige Erstaufführung war am 20. Dezember 1980 in Detmold. Annie wurde zwei Mal fürs Kino verfilmt: 1982 und 2014.

Konzentriert beim Tanzen: Die Choreographie bekommen die „Annie“-Kinder auch prima ohne Erwachsene hin. Bilder: Brieschke

Konzentriert beim Tanzen: Die Choreographie bekommen die „Annie“-Kinder auch prima ohne Erwachsene hin. Bilder: Brieschke

Die Waisenkinder im Musical Annie. Bild: Oliver Staack

Die Waisenkinder im Musical Annie. Bild: Oliver Staack