Mystik trifft Kunst

Marina Abramovic in der Kunsthalle Tübingen

15.09.2021

Marina Abramovic kann auch unspektakulär: Hier signiert sie Bücher bei der Pressekonferenz. Bild: Andrea Bachmann

Marina Abramovic kann auch unspektakulär: Hier signiert sie Bücher bei der Pressekonferenz. Bild: Andrea Bachmann

Am vermutlich heißesten Tag des Jahres sitzt die Presse im Skulpturenhof der Tübinger Kunsthalle und wartet auf den Star. Marina Abramovic enttäuscht uns nicht. Schwarze Haare, schwarzes Kleid, rote Lippen, rote Nägel. Von Kopf bis Fuß eine weltberühmte Künstlerin.

Bereits nach einer Minute bin ich vollkommen geflasht von ihrer Präsenz, ihrer Kraft, ihrer Großzügigkeit, ihrer Fröhlichkeit. Sie antwortet freundlich und präzise auf sämtliche Fragen, erzählt Anekdoten, bringt alle zum Lachen, signiert Bücher und lässt sich von allen Seiten fotografieren. Ich habe jetzt ein Selfie mit Marina Abramovic.

Ihre Autobiographie „Durch Mauern gehen“ habe ich in drei Tagen gelesen. Auf 500 Seiten erzählt sie von ihrer Kindheit in Belgrad, ihren ersten Gehversuche als Künstlerin, ihren krassen Rhythm-Performances, der Zeit mit Ulay, ihrem Partner in Leben und Kunst, ihren Reisen quer über den gesamten Globus. Ich war beeindruckt von ihrer Konsequenz, ihrer Disziplin, ihrem Mut, ihrer Ehrlichkeit. Kaum vorstellbar, dass diese Frau sich liebeskummerkrank daheim verkriecht und zu viel Schokolade futtert. Aber auch darüber schreibt sie.

Vor allem aber schreibt sie über ihre Kunst. Über unterschiedliche Kulturen, Religionen, Wertesysteme, die sie miteinander verbinden möchte. Über Liebe, Angst, Tod, Versöhnung, Sehnsucht, Heimat, Sex und den Wunsch, aus den engen eigenen körperlichen Begrenzungen heraustreten zu können um hinter das schauen zu können, was rational fassbar ist. Über die Kunst, loslassen zu können. Über Energie. Das wird ihre Mastermetapher, im Leben, im Schreiben, in der Kunst. Das ist das, was sie weitergeben will. Sie muss eine ziemlich fantastische Lehrerin sein. Nicht nur für Lady Gaga.

Ich meinte also zu wissen, was mich erwartet.

Bis ich in der Kunsthalle vor einer Leinwand stehe. Marina Abramovic kniet auf dem Boden, den Rücken zur Betrachterin. In der Hand hält sie eine Peitsche aus mehreren Lederschnüren. Mit dieser Peitsche schlägt sie sich. Minutenlang. Ich schaue bis zum Schluss zu. Das ist anstrengend. Durch Kopf und Körper rauschen widersprüchliche Empfindungen. Unbehagen. Scham. Verständnislosigkeit. Faszination. Bewunderung. Zärtlichkeit. Ich möchte dieser Frau die Peitsche wegnehmen, sie in meinen Armen wiegen und ihre Wunden versorgen.

„Dissolution“ ist eine der harmloseren Performances, die Marina Abramovic zu Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn ausprobiert hat. Sie schreckt vor nichts zurück. Sich selbst zu verletzen, ist ein Tabubruch. Gleichzeitig gilt das Ertragen von Schmerzen und körperlicher Anstrengung aber in allen Zeiten und Kulturen als Zeichen von innerer Stärke. Den Körper an die äußersten Grenzen des Erträglichen zu bringen, um hinter die Grenzen der Vernunft und des Verstandes zu gelangen. Das machen Indianer. Samurai. Christliche Mystikerinnen. Marina Abramovic.

Dann trifft sie den Künstler Ulay und führt ihre Suche nach Energiedimensionen jenseits unseres Selbst auf andere Weise weiter. Durch Hingabe. Vertrauen. Begehren. Ozeanische Verschmelzung. In „Rest Energy“ stehen Marina Abramovic und Ulay einander gegenüber und spannen gemeinsam einen Bogen, der Pfeil ist auf Marinas Herz gerichtet. Wenn einer von beiden loslässt, ist sie tot. Performances sind keine Theaterstücke. Theater ist Spiel. Performance ist Realität. Alles ist echt. Es sieht schön und schrecklich aus, wie die beiden da stehen. Konzentriert. Kraftvoll.

Nach zwölf gemeinsamen Jahren mit Ulay arbeitet Marina Abramovic wieder allein. Begibt sich noch tiefer hinein in die Suche nach der Welt hinter den Dingen. „In the Kitchen“ heißt ein Video-Triptychon, das der Mystikerin Teresa von Avila gewidmet ist. Marina Abramovic steht in der Küche eines verlassenen spanischen Klosters und hält einen Topf voll heißer Milch in den Händen, beschirmt einen Totenschädel aus Gips, schwebt vor dem Fenster. Achtsamkeit gegenüber Körper, Geist und Seele. Vergänglichkeit. Ekstase. In der Welt der Marina Abramovic ist alles ganz einfach. Ihre Performances lassen sich in zwei, drei Sätzen beschreiben. Sie braucht nicht viel.

Mag es mich berühren, schockieren, verletzen, heilen oder auch belustigen wie das Gespräch mit einem Esel – fremd ist mir nichts. Bei aller kosmopolitischen Weite bleibt Marina Abramovic Europäerin. Ich verstehe sie. Ich muss mich nur einlassen auf ihre Spielregeln, auf ihre Bilder, auf ihre Rituale.

„The Current“ ist mein Lieblingsvideo in der Kunsthallenausstellung, die von Kunsthallenleiterin Nicole Fritz in enger Zusammenarbeit mit Marina Abramovic und ihrem Team kuratiert wurde. Die Künstlerin liegt auf einem hohen Metallbett in einer rauen Schotterlandschaft. Um das Bettgestell herum sind einige riesige Bergkristalle verteilt. Der Himmel ist schwarzblaugrau. Die langen schwarzen Haare flattern im Wind. Marina Abramovic gibt sich dem Sturm hin, lässt die Energie von Metallen, Mineralien und Atmosphäre durch sich hindurchfließen. Kosmos und Körper finden zusammen.

Wie der kroatische Physiker Nikola Tesla, der ebenso schillernde wie geniale Pionier der drahtlosen Energieübertragung, ist Marina Abramovic davon überzeugt, dass jedes Objekt, jedes Wesen, jeder Mensch über eine eigene Wellenlänge und Frequenz verfügt. Neben unserer sichtbaren Welt existieren für uns unsichtbare Parallelwelten. Wie aufregend wäre es, könnten wir uns zwischen diesen Welten bewegen.

Marina Abramovic ist eine wunderbare Reisebegleiterin auf der Suche nach dem, was hinter dem Spiegel ist. Nach dem Inneren der Seelenburg.

„Achte auf dich selbst und wo du dich findest, da lasse von dir“, schreibt der spätmittelalterliche Mystiker Meister Eckhart, für den sich Gott mit jedem Moment in seiner Schöpfung immer neu verwirklicht. Marina Abramovic und er hätten sich Manches zu sagen gehabt.

Ich bin vollkommen marinisiert. Andrea Bachmann

Archivbild (unten): Ulrich Metz