Stadtführer mit Stange

Michael Karcz manövriert hauptberuflich Stocherkähne über den Neckar

Michael Karcz ist mit seinem Stocherkahn seit zwei Jahren hauptberuflich auf dem Tübinger Neckar unterwegs. Wir sprachen mit dem 32-Jährigen über die Sicherheit an Bord in Corona-Zeiten und die Konkurrenz auf dem Fluss.

23.09.2020

An einem guten Tag stochert Michael Karcz etwa sieben Stunden am Stück. Bild: Dennis Duddek

An einem guten Tag stochert Michael Karcz etwa sieben Stunden am Stück. Bild: Dennis Duddek

TAGBLATT ANZEIGER: Wie kamen Sie dazu, Stocherkahn auf dem Neckar zu fahren?

Michael Karcz: Ich kam nach Tübingen, um Biologie und Geographie auf Lehramt zu studieren. Wie die meisten Studenten habe ich angefangen, in der Gastronomie zu arbeiten. Über verschiedene Kontakte habe ich als Handwerker weiter gearbeitet und einer davon hatte einen Stocherkahn. So hat das vor knapp acht Jahren angefangen.

Wie lange haben Sie gebraucht, um einen Kahn fahren zu können?

Stocherkahnfahren an sich, sodass man den leeren Kahn beherrscht, also nicht in die Ufer fährt, ist nicht so schwer. Ich habe dafür knapp drei Tage mit intensivem Training gebraucht. Einen voll besetzten Kahn zu steuern, ist allerdings schon schwieriger. Denn der Kahn ist schwerer und träger. Außerdem hat er viel mehr Tiefgang, was die Wasserwelle vor dem Bug erhöht. Das merkt man vor allem flussaufwärts. Bis man einen Kahn wirklich beherrscht, dauert das ein bis zwei Monate. Und dann wollen meine Gäste ja auch noch viel über Tübingen erfahren. Weshalb ich ständig Informationen über die Stadt sammeln muss.

Wie anstrengend ist ein ganzer Tag auf dem Kahn für Sie?

Das kommt auf die Zahl und die Länge der Fahrten an. Mein Rekord liegt bei zehn Stunden stochern am Stück. Meistens stochere ich an einem guten Tag etwa sechs Fahrten zwischen einer und eineinhalb Stunden, sodass unterm Strich grob sieben Stunden Fahrtzeit zusammenkommen. Da bin ich dann abends schon sehr müde.

Wie haben Sie den Lockdown überstanden?

Ich habe die Zeit anderweitig genutzt. Wenn man den ganzen Sommer Stocherkahn fährt, hat man nicht sehr viel Zeit übrig, da man immer verfügbar sein muss, wenn Kundschaft kommt. Ich habe während des Lockdowns viel für Werbung und Organisation gemacht. Außerdem musste ich einen privaten Umzug bewältigen. Daher kam mir das Ganze ziemlich gelegen. Die Stocherkahn-Saison geht normalerweise Anfang April los. Der verspätete Start in diesem Jahr bringt natürlich finanzielle Einbußen mit sich.

Wie verbringen Sie die Zeit im Winter?

Das ist ganz unterschiedlich, da muss man flexibel sein. Vor zwei Jahren habe ich den Winter in Indonesien verbracht. Dort habe ich mich als „Divemaster“ ausbilden lassen und habe als eine Art Dauerpraktikant auf einer Tauchbasis gearbeitet. In der Zeit habe ich zwar nichts verdient, dafür wurden meine Lebenshaltungskosten übernommen. So kann man den Winter gut überstehen, vor allem, wenn man eine Studentenwohnung hat, die man untervermieten kann. Vergangenen Winter habe ich als Hüttenwart gearbeitet und mich um eine Berghütte gekümmert.

Haben Sie schon einmal am Stocherkahnrennen teilgenommen?

Leider noch nie, was ich sehr bedauere. Entweder habe ich während des Rennens einen Zuschauerkahn gestochert oder auf einer Forschungsstation gearbeitet. Und dieses Jahr gab es wegen Corona kein Stocherkahnrennen.

Sind Sie mit dem Kahn schon einmal gekentert?

Mit dem Kahn, mit dem ich jetzt unterwegs bin, noch nie. Mein alter Kahn ist einmal so stark mit Wasser vollgelaufen, dass es fast so weit war. Allerdings konnten meine Gäste und ich noch rechtzeitig das Wasser rausschöpfen. Einmal ist mein Kahn während des Hochwassers am Liegeplatz untergegangen, aber da waren natürlich keine Fahrgäste an Bord.

Mit welchem Trick verhindern Sie es, vom Kahn zu fallen?

Man lernt mit der Zeit, die Balance zu halten - auch auf der Lehne. Und mit der Zeit bekommt man ein Gefühl für die Stange und spürt, wenn sich gefährliche Spannungen aufbauen oder sie steckenbleibt.

Wie stark spüren Sie den Konkurrenzdruck zwischen den Stocherkahnfahrern?

Stark und nicht so stark. Jeder versucht natürlich, Kunden zu gewinnen und dann mit der Fahrt Geld zu verdienen, dies ist ganz klar. Im Interesse eines guten Images halten wir Stocherkahnfahrer aber auch zusammen. Wenn beispielsweise ein Kollege krank ist, helfen wir uns gegenseitig. Und wenn der eigene Kahn voll ist und noch Passagiere an Land stehen, übergibt man diese an einen Kollegen. Es gibt auch große Aufträge, wo man von Anfang an zusammenarbeiten muss, damit die Kapazitäten ausreichen. Zusammenarbeiten ist besser als gegeneinander, „Sharing ist Caring“ sagen wir. Dies ist zwar nicht die Haltung von allen Stocherkahnfahrern, aber die meisten sehen das so.

Welche Corona-Auflagen müssen Sie derzeit erfüllen?

Anfang Mai wurde eine ganze Liste mit Auflagen schnell aus dem Boden gestampft und mit der Zeit immer mehr verfeinert. Die Hauptauflage ist der Abstand zwischen dem Fahrer und seinen Kunden. Deshalb dürfen die Gäste derzeit leider nicht selbst stochern. Außerdem müssen die Gäste bei Gruppen, die nicht zusammengehören, während der Fahrt einen Abstand von mindestens 1,50 Meter einhalten. Beim Ein- und Ausstieg gilt außerdem eine Maskenpflicht, da dort der Abstand nicht gewährleistet ist. Und natürlich desinfizieren wir nach jeder Fahrt alle Kontaktflächen.

Was ist der Unterschied zwischen einem Stocherkahn und einer Gondel aus Venedig?

Gondeln werden mit einer Rudertechnik bewegt, diese stoßen sich also am Wasser ab. Ein Stocherkahn wird dagegen mit der Stange direkt am Flussbett abgestoßen. Dabei geht wesentlich weniger Energie verloren, weshalb in einem Stocherkahn mehr als 20 Fahrgäste transportiert werden können. Ich glaube, dass in der größten Gondel der Welt dagegen höchstens sechs Fahrgäste transportiert werden können.

Was kostet ein Stocherkahn?

Ein Kahn mit 20 Sitzplätzen, wie er vor allem in Tübingen genutzt wird, kostet etwa 7400 Euro. Größere Kähne sind etwas teurer.

Was nervt Sie auf einer Fahrt mit dem Stocherkahn?

Vor allem bei Junggesellenabschieden überschätzen sich viele Fahrgäste und können sich dann nicht mehr wirklich kontrollieren, sodass es sehr schwierig ist, die Sicherheit an Bord aufrechtzuerhalten. Dann kann es auch sein, dass ich die Fahrt abbreche. Das ist in den vergangenen acht Jahren aber nur ungefähr drei Mal vorgekommen. Außerdem ist es manchmal sehr nervig, wenn ich etwas über Tübingen erzähle und die Fahrgäste alles besser wissen. Aber auch das kommt nur selten vor.

Fragen von Dennis Duddek

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Erstellt:
23.09.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 00sec
zuletzt aktualisiert: 23.09.2020, 01:00 Uhr

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