Der Kommentar

Neue Rat-Wege

02.12.2020

Von Günter Sopper

Tübingen ist eine Radfahrern geneigte Stadt, und das ist gut so, da diese (in der Regel) nicht nur keine Schadstoffe ausstoßen, sondern durch ihre Geschwindigkeit, mit der sie oft auf Gehsteigen rasen, auch bei Windstille für einen guten Luftaustausch sorgen. Zudem fördern sie die Wachheit und Geistesgegenwart der oft zu verträumt dahindümpelnden Fußgänger. Wie oft dankte ich dem Himmel, dass ich nicht gerade einen Schritt zur falschen Seite gemacht hatte, wenn ein Radfahrer mich auf einem Gehweg von hinten (und zudem ohne zu klingeln) mit Affenzahn überholte oder wenn ich mich, meine Wohnung verlassend, beim versuchten Betreten des Gehsteigs vor dem Haus im letzten Moment durch einen Salto rückwärts retten konnte. In der Nacht braucht nicht erst die Geisterstunde eintreten, um von vielen Geisterfahrern, auf Pedalen, aber ohne Licht, erschreckt zu werden.

Bei all dem Guten, das die motorlosen Zweirad-Kapitäne bewirken, möchte man sie daher nicht mit regelmäßigen Polizeikontrollen und Strafen einschüchtern, sondern eher belohnen, und da es bei den jungen tempomäßig immer höchste Eisenbahn zu sein scheint (verstehe ich, auch ich war einmal jung!) haben sie nun von der Stadt in der Eisenbahnstraße eine weitere schöne Strecke, einen prächtigen Radweg mit dicker blauer Kennzeichnung an den Kreuzungen bekommen – da können sie bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 Stundenkilometern so richtig loslegen!

Allerdings können dabei wieder die Fußgänger leicht unter die Räder kommen, denn Fußgängerüberwege gibt es bis dato nicht. Zwar sind sogar drei geplant, doch bis jetzt mussten sich besonders Menschen mit Gehbehinderung, die eine Physiotherapiepraxis in der Straße aufsuchen wollen, zu Stoßzeiten durch die Autokolonnen, den abbiegenden Verkehr und den Vorrang besitzenden Radfahrern mühsam ihren Weg bahnen, wenn sie vom Kaufland kommen. Dass die Übergänge nicht gleich mitgemacht wurden, hat sicherlich ebenfalls seinen Grund darin, die Aufmerksamkeit und Schnelligkeit der Fußgänger zu schulen! Nun wird den Anzeichen nach der Überweg, welcher von der Ludwigsstraße auf die andere Seite führen soll, einen Umweg verlangen, ebenfalls ein Trainingsvorteil, den viele aber vielleicht nicht zu schätzen wissen und dann doch wieder den kürzesten und ungesicherten Weg über die Straße nehmen. Aber auch die Fitness der Autofahrer unter den Anwohnern und Besuchern, die etwas oder jemanden transportieren, wurde gesteigert. Bei der erlaubten kurzen Haltezeit heißt es dann schon mal, die Treppen rauf- und runterzurasen, ohne oder auch mit Krücken. Den Anwohnern wurden nämlich, zum Teil ohne ihr Wissen, ihre Parkplätze weggenommen. Hätte es die Situation nicht entzerrt, wenn die Radfahrer durch die parallele und auch für sie sicherere Hanna-Bernheim-Straße geleitet worden wären?

Ich denke, dass nach den Radfahrern als nächstes die ebenfalls schadstofffreien Fußgänger und Behinderten ein bisschen privilegiert werden sollten, so lange, bis sich alle Menschen als eine Gemeinschaft verstehen, die auf einander Rücksicht nimmt.

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Erstellt:
02.12.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 28sec
zuletzt aktualisiert: 02.12.2020, 01:00 Uhr

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