Dem Himmel so nah

Peter Härtlings „Winterreise“ kehrt nach 20 Jahren zurück

Aufbruch ist angesagt beim Theater Lindenhof: Im Dezember wird nicht nur ein neues Foyer für die Zuschauer eingeweiht, auch die 1997 uraufgeführte „Melchinger Winterreise“ kommt in einer aktualisierten Neuinszenierung zurück auf die Schwäbische Alb.

13.12.2017

Peter Härtlings „Winterreise“ kehrt nach 20 Jahren zurück

Das Theater Lindenhof führt jährlich rund 350 Veranstaltungen durch – davon 230 in Burladingen-Melchingen und 120 an Gastspielorten in ganz Baden-Württemberg, aber auch überregional in München, Hamburg, Berlin oder Recklinghausen. Mit seinen Aufführungen erreicht es jährlich rund 45 000 ZuschauerInnen, davon 20 000 allein in Melchingen. Doch seit Oktober wurde das Theater umgebaut und der Theaterbetrieb bis zur Premiere der „Melchinger Winterreise“ am vergangenen Wochenende ausgesetzt. Bis dahin standen die Lindenhof-Schauspieler aber trotzdem auf der Bühne, wenn auch an anderen Orten.

Noch ist das umgebaute Foyer des Theaters nicht ganz fertig, aber schon bespielbar: Die Zuschauer werden zukünftig über eine große Treppe in die beiden Veranstaltungsräume – die Theaterscheune und den Theatersaal – gelangen. Das Foyer selbst wurde mit einem neuen Dach und einer hellen Glasfront ausgestattet und was ganz wichtig ist: Die Zuschauer werden nun nicht mehr im Winter frösteln müssen, da das Foyer beheizt werden kann. Das freut auch die Besucher, die nach dem Theaterspaziergang inmitten der Winterlandschaft der Schwäbischen Alb in die Theaterscheune zurückkehren, um den zweiten Teil der neu inszenierten „Melchinger Winterreise“ unter der Regie von Christoph Biermeier mitzuerleben.

In dem Stück, das der am 10. Juli verstorbene Peter Härtling vor 20 Jahren für das Theater Lindenhof schrieb, verknüpfte der Schriftsteller Franz Schuberts Leben und dessen Arbeit am Liedzyklus mit seinen eigenen Erfahrungen von Fremdheit. Ursprünglich sollte die „Melchinger Winterreise“ ein Stück über Schubert werden, dann wurde es vor allem ein Stück über einen Schubert-Liebhaber namens Härtling.

Dem Gelegenheitsdramatiker Härtling diente die Losung „Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh‘ ich wieder aus“ dazu, die Leiden des jungen Härtling und des sterbenden Schuberts zu verklammern. Während wir von Schubert viel über Poesie und verzehrende Liebe erfahren, hören wir von Härtling, dass er als Flüchtlingsjunge ins Schwäbische hineingezwungen wurde wie in ein Land Liliput, in dem alle Orte auf -ingen enden.

Da die Themen Flucht, Fremdsein und Vertreibung durch die weltweiten Fluchtbewegungen wieder neue Aktualität bekommen haben, hat das Melchinger Theater beschlossen, das Stück in einer aktualisierten Neuinszenierung wieder ins Programm zu nehmen. Regisseur Christoph Biermeier hat neben der inneren Fremdheit des Künstlers Franz Schubert und den persönlichen Erfahrungen des Flüchtlingskinds Peter Härtling eine neue, „dritte Ebene“ in den dreistündigen Theaterspaziergang integriert. Dabei erzählen drei aus ihrer Heimat Geflüchtete aus Afghanistan und Eritrea über ihre eigenen Fluchterfahrungen, die mit den beiden anderen Ebenen verbunden werden. Untermalt wird der winterliche Theaterspaziergang von der Klavier- und Akkordeonmusik von Susanne Hinkelbein und Victor Oswald.

Während ein Teil der „Winterreise“ wie bei der Uraufführung 1997 als vielfach gebrochenes Theater im Saal spielt, wird ein Teil der in drei Gruppen aufgeteilten Zuschauer mit dem Bus auf den Himmelberg vor Melchingen gekarrt. Dort zeugen ein Zelt und ein Kleintransporter von heutigen Fluchtbewegungen, begegnet man gespenstischen Bodenwesen mit Himmelsambitionen und aufgesteckten Flügeln. Der „Engel der Geschichte“ (siehe Bild), der sich zwischen den Zeiten bewegt, geleitet die Zuschauer durch die Szenen, Bilder und Schlaglichter.

So werden aus Theatergängern Spurenleser, und die Schwäbische Alb, mit einem Himmel wie von Alfred Kubin gebraut, wird zur größten aller Bühnen: Der Zuschauer darf sich verloren und geborgen zugleich fühlen, wird unsichtbar und gleichzeitig von allen Seiten beobachtet. Jürgen Spieß

Die nächsten Aufführungen der „Melchinger Winterreise“ sind am 15., 16., 17., 27., 28., 29. und 30. Dezember; vom 3. bis 7. / 11. bis 13. / 19. bis 21. und 26. Januar; und vom 2. bis 4. und 9. bis 11. Februar, jeweils 15 Uhr.