Radfahrerinnen sind keine Exoten

Mein Lateinlehrer kam immer mit dem Fahrrad zur Schule. Er brauchte für den Weg etwa eine Viertelstunde – genauso lange wie ich, denn wir wohnten in derselben Straße. Was für eine Gymnasiastin Ende der 70er-Jahre total normal war, war es noch lange nicht für einen Flensburger Oberstudienrat. Der galt als in hohem Maße verschroben. Ein Mann! In dieser Position! Auf dem Rad!

Lächerlich.

Ein Oberstudienrat eines humanistischen Gymnasiums fuhr vor vierzig Jahren selbstverständlich mit einem Auto zur Schule. Vielleicht hätte er noch zu Fuß gehen können. Aber in die Schule radeln? Wie ein Obertertianer? Unmöglich.

Diese Zeiten sind längst vorbei. In Tübingen zumindest. Da staunen höchstens noch ein paar Touristen über einen radelnden Oberbürgermeister. Ein knappes Dutzend Fahrradhändler verkaufen vom federleichten Carbontraum bis zum schwerlasttauglichen Hollandrad alles, was zwei Räder hat. Auch für einen Oberstudienrat ist ein passendes Modell dabei.

Aber beim Baumarkt gibt es höchstens zehn Fahrradständer. Wer mit Gepäck über die Neckarbrücke radelt, muss nach wie vor um seine Packtaschen fürchten. Über kaum eine andere Sinnlosigkeit wurde sich länger und heftiger aufgeregt als über die Fahrradzählmaschine am Schlossbergtunnel.

Radelnde Lehrer sind keine verschrobenen Exoten mehr. Aber mit dem Fahrrad fahren verhält es sich ein bisschen wie mit der Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Da denkt man, wir seien mittlerweile komplett durchemanzipiert, aber wenn die Kundin einer Kreissparkasse auch als solche angesprochen werden möchte, erhebt sich ein Sturm der Entrüstung angesichts dieser vermessenen Forderung.

So wie den zur Zeit knapp 60 Prozent Studentinnen der Universität Tübingen nur etwa 20 Prozent Professorinnen gegenüber stehen, fahren noch längst nicht ebenso viele Fahrräder wie Autos täglich durch die Wilhelmstraße. Dabei wäre das noch toller als ein radelnder Oberbürgermeister.