Der Kommentar

Reges Nachtleben im Schönbuch

30.09.2020

Von Stefan Zibulla

Selfie-Jäger kommen nicht auf ihre Kosten, wenn Roland Bengel im September zur Nachtwanderung durch den Schönbuch einlädt. Denn Blitzlichter sind auf seiner vierstündigen Führung zur Hirschbrunft im Gewann Troppender Wasen, die um 19 Uhr nahe der Weiler Hütte startet, genauso tabu wie Taschenlampen.

Am Rand einer Lichtung lauscht die 17-köpfige Gruppe hochkonzentriert einem Hirsch, der höchstens 200 Meter entfernt ist. Die langgezogenen Schreie, die durch das Kleine Goldersbachtal dröhnen, klingen bedrohlich und verzweifelt. Oder triumphierend und fast spöttisch, wenn sie kurz und stakkatoartig, beinahe rhythmisch, aufeinanderfolgen: Ha, ha, ha – hier bin ich der Platzhirsch! Das Geweih eines abgeschossenen Hirsches kann auf dem Markt einen Preis von 6500 Euro erzielen.

Wenn das männliche Rotwild aufheult, erinnert es an knatternde Rasenmäher, den Sound frisierter Motorräder oder den Lärm alter Autos mit durchgerostetem Auspuff. Und manchmal hört es sich wie das Muh eines Rindviehs oder das Knurren aus der Tiefe einer hungrigen Magengrube an. Nur dass alles noch viel voluminöser ins Ohr dringt.

Es müssen riesige Monster sein, die zwischen Dettenhausen und Bebenhausen mit hormongesteuertem Imponiergehabe zur Paarungszeit ihr Revier abstecken. Aggressive Raubtiere, die mit ihrem Gebrüll den Konkurrenten im Kampf um die Hirschkühe einschüchtern. Doch die scheuen Waldbewohner, die bei einsetzendem Regen plötzlich verstummen, werden dem Menschen nicht gefährlich. Um sie nicht zu verscheuchen, verzichten die Teilnehmer der Führung auf Gespräche. Bengel gibt seine sparsamen Hinweise im Flüsterton. Außer, er referiert über die Kulturgeschichte des Waldes und die lokale Historie des Schönbuchs. Dann erfahren die Teilnehmer beispielsweise, wo am Ende des Zweiten Weltkriegs die Grenze zwischen der amerikanischen und französischen Besatzungszone verlief und dass das Altdorfer Sträßle im Mittelalter ein wichtiger Transportweg für die Produkte aus einer nahe gelegenen Glashütte war. Und dass Fichten beim Stresstest, der dem Klimawandel geschuldet ist, schon längst durchgefallen sind.

Im Laufe der bewölkten Nacht gewöhnen sich die Augen immer mehr an die Dunkelheit. Bengel führt die Gruppe auf der rund sieben Kilometer langen Wanderung auch ohne Navi, das hier sowieso nicht funktionieren würde, selbst über schmale Trampelpfade souverän ans Ziel. Es scheint so, als kenne er hier jeden Baum. Auch wenn er selbst betont, dass sich in dem 156 Quadratkilometer großen Naturpark niemand wirklich auskennen könne. Zumal sich Fauna und Flora ständig verändern.

Der finstere Schönbuch verliert seine unheimliche Aura, wenn Bengel die Angst vor bösen Räubern, die sich hinter Buchen und Eschen verstecken, in das Reich der Märchen verbannt. Abgesehen von den Zecken, die den Schönbuch zum Risikogebiet für Borreliose und FSME machen, sei der Wald der sicherste Ort, stellt der Autor zahlreicher Bücher über den Naturpark fest. „Auf jeden Fall ist er sicherer als der Straßenverkehr.“

Sobald Stämme und Äste im fahlen Mondlicht ihre Farbe verlieren, entfalten sie eine romantische Ästhetik, die man von Lotte Reinigers Scherenschnitten kennt. Eine Nacht im Schönbuch ist ein Genuss für viele Sinne. Das spüren wohl auch die beiden jungen Joggerinnen, die dank ihrer Stirnlampen schon von weitem zu sehen sind und kurz vor 23 Uhr an Bengels Gruppe vorbeilaufen und dabei die würzige und kühle Herbstluft inhalieren.

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Erstellt:
30.09.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 38sec
zuletzt aktualisiert: 30.09.2020, 01:00 Uhr

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