Hungern gegen die Ohnmacht

Regine Kottmann über die Ess-Störungen von Jugendlichen in der Corona-Pandemie

Die Tübinger Initiative für Mädchenarbeit (Tima) berät Jugendliche mit Ess-Störungen. Wir fragten Regine Kottmann vom Tima-Team, warum die Corona-Pandemie ungesunde Ernährung fördern kann.

20.01.2021

Regine Kottmann beobachtet Jugendliche, die sich in der Corona-Krise sehr stark auf ihr Körpergewicht und ihre Ernährung konzentrieren. Bild: Vivian Viacava Galaz

Regine Kottmann beobachtet Jugendliche, die sich in der Corona-Krise sehr stark auf ihr Körpergewicht und ihre Ernährung konzentrieren. Bild: Vivian Viacava Galaz

TAGBLATT ANZEIGER: Registrieren Sie als Folge der Corona-Krise einen Anstieg der Ess-Störungen bei Jugendlichen?

Regine Kottmann: Wir können nicht direkt sagen, dass es einen Anstieg gibt, dafür ist die Zeit zu kurz. Es dauert in jeder Familie meistens einige Monate, bis die Eltern oder die Betroffenen sagen: Wir brauchen Hilfe. Aber ich beobachte bei den Jugendlichen, die zu mir in die Beratung kommen, dass ihre Ess-Störungen häufig durch den veränderten Alltag unter Corona ausgelöst oder verschärft werden. Zum Beispiel sagte kürzlich ein Mädchen zu mir: „Ich habe gerade eigentlich gar nichts zu tun, was irgendwie Sinn macht.“ Geschlossene Schulen verstärken dieses Gefühl der Langeweile und Sinnlosigkeit. In dieser Situation konzentrieren sich manche Jugendliche sehr stark auf ihren Körper, praktizieren Workouts, versuchen abzunehmen und ändern ihr Essverhalten.

Was kann noch Ess-Störungen auslösen?

Meistens gibt es mehrere Auslöser. Zu uns kommen die Jugendlichen oft wegen des Themas Magersucht. Das bedeutet, dass sie ganz viel Gewicht verloren haben und nur noch wenig essen. Manche Jugendliche ernähren sich aus ethischen Gründen und um den Tierschutz zu unterstützen nur noch vegan. Wenn sie sich jedoch über vegane Ernährung nicht gut informiert haben, kann sie ungewollt einseitig werden und sich in Einzelfällen gesundheitlich negativ auswirken.

Auch Krisen und Konflikte in der Familie können Ess-Störungen auslösen. Die Konzentration auf den Körper und die Reduzierung der Ernährung kann aber auch eine Reaktion auf die Corona-Krise sein. Denn sie erzeugt ein Gefühl der Machtlosigkeit. Menschen wollen aber ihr Leben im Griff haben. Das kann ein Grund für Diätexperimente sein. Denn wenn sie dabei an Gewicht verlieren, haben sie ein persönliches, wenn auch in manchen Fällen riskantes Erfolgserlebnis und das Gefühl, selbstbestimmt zu handeln.

Wie sieht die Beratung bei Ess-Störungen aus?

Die Mädchen, die zu uns in die Beratung kommen, stecken meistens schon in einer Krise. Ich frage sie dann, was der Gewichtsverlust für sie bedeutet, wofür er „gut“ sei. Oftmals sorgt der Gewichtsverlust erstmal für Anerkennung durch andere und er vermittelt das Gefühl: „Ich hab das geschafft! Ganz alleine!“ Einerseits finden die Betroffenen es ganz toll, dass sie jetzt so schlank sind und möchten deshalb an ihrem Lebensstil nichts ändern. Andererseits leiden sie unter dem Zwang, ständig hungern zu müssen. Das macht sie dünnhäutig und traurig und sie ziehen sich zurück.

Wer meldet sich während
der Pandemie für eine Beratung an?

Es sind Eltern mit Kindern im Alter zwischen 11 und 15 Jahren sowie junge Erwachsene. Seit Ausbruch der Pandemie reagieren die Eltern schneller auf das riskante Essverhalten ihrer Kinder. Weil sie jetzt viel zuhause sind, fällt es ihnen früher auf, dass ihre Kinder weniger essen oder bestimmte Sachen weglassen. Experimente in der Ernährung können Kinder in der Pandemie nicht mehr so leicht vor ihren Eltern vertuschen. Häufig ist ihr Essverhalten dann Streitpunkt mit ihren Eltern. Studierende und Abiturient(inn)en, die in unsere Beratung kommen, sind oft traurig: Träume sind geplatzt, oder sie haben Stress, zuhause oder mit der Vereinzelung im Online-Studium.

Wie erkennt man an sich selbst, dass man unter einer Ess-Störung leidet?

Man erkennt die Störung nicht nur daran, dass man schnell Gewicht verliert. Vor allem erkennt man sie daran, dass sich die eigenen Gedanken und Gespräche nur noch um das Essen drehen, die Sorgen um die Figur und das Gewicht werden immer größer. Man verliert den Spaß am Sport, weil er nur noch ein Mittel zur Reduzierung von Kalorien ist, betreibt ihn aber umso intensiver.

Fragen von Vivian Viacava Galaz

Lebenshunger Präventions- und Beratungsstelle bei Ess-

Störungen Tima e.V.

Weberstraße 8, 72070 Tübingen

Telefon (0 70 71) 76 30 06

Beratungshandy:

0 15 73 / 4 41 68 03

lebenshunger@tima-ev.de

www.tima-ev.de

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Erstellt:
20.01.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 52sec
zuletzt aktualisiert: 20.01.2021, 01:00 Uhr

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