„Der Bedarf ist da“

Seit 1991 begreift das Sozialforum Tübingen Gesundheit als etwas, das man mitgestalten kann.

04.05.2022

Vertreterinnen und Vertreter des Sozialforums Tübingen: (von links nach rechts) Barbara Herzog, Dietmar Töpfer, Elvira Martin und Michelle Camila Perez. Bild: Monica Brana

Vertreterinnen und Vertreter des Sozialforums Tübingen: (von links nach rechts) Barbara Herzog, Dietmar Töpfer, Elvira Martin und Michelle Camila Perez. Bild: Monica Brana

Vier Vertreterinnen und Vertreter des Vereins umreißen beim Gespräch im dem TAGBLATT ANZEIGER, was hinter dieser Idee steckt und wie Menschen ihr körperliches und seelisches Wohlergehen selbst in die Hand nehmen. Der Dachverein vernetzt sich dabei mit vielen weiteren sozialen Vereinen, Gruppen und Initiativen.

TAGBLATT ANZEIGER: Wo ist das Sozialforum und wie arbeitet Ihr Team?

Dietmar Töpfer, Geschäftsführer: Wir vergrößern uns gerade. Seit 2012 haben wir hier am Europaplatz 3 unsere Büros im 5. Stock. In der Pandemie bezogen wir im 2. Stock zusätzliche Räume für Selbsthilfegruppen.

Hier ist Umtrieb: Wir sorgen dafür, dass Selbsthilfegruppen sich treffen können. Unser fünfköpfiges Kernteam arbeitet in Teilzeit und uns finanzieren die Stadt, das Sozialministerium, die Krankenkassen und nicht zuletzt Spenden.

Wie sieht Ihre Arbeit aus?

Töpfer: Ich schaue, dass meine Kolleginnen alles haben, damit sie ihre Arbeit machen können, und arbeite ihnen zu. Derzeit stelle ich die Anträge, dass die Gelder für dieses Jahr kommen.

Elvira Martin, Forum & Fachstelle Inklusion: Hier ist ein Ort, wo Menschen für sich selbst Verantwortung übernehmen. Selbsthilfe ist fester Bestandteil des Gesundheitswesens. Und sie steht im Kontrast zum uralten Begriff der „sozialen Fürsorge“, der für Patienten und Klienten eher eine passive Rolle vorsieht. Aus der Klamottenkiste schaffte die soziale Fürsorge es im Mai 2020 aber in die Corona-Verordnung, sie galt auch für Selbsthilfegruppen und gab ihnen trotz aller Kontaktbeschränkungen etwas Spielraum.

In der Stadtbücherei fielen in der Pandemie etwa Computerarbeitsplätze weg, die Menschen nutzen konnten, die keinen eigenen Computer besitzen. Wir haben Laptops angeschafft, die kann man ausleihen oder hier benutzen.

Ich selbst setze mich auf politischer Ebene für die Belange von Menschen mit Behinderung ein. Vor zehn Jahren kam etwa eine Selbsthilfegruppe von Gehörlosen auf uns zu, weil es kaum induktive Höranlagen in Tübingen gab. Durch viele Gespräche ist hier die Situation nun etwas besser. Dennoch sind immer noch große Teile des Kulturangebots nicht erreichbar. Zum Beispiel ist in Tübingen nur ein einziger Kinosaal über einen Nebeneingang im Rollstuhl erreichbar. An solchen Dingen arbeiten wir.

Barbara Herzog, Kontaktstelle für Selbsthilfe: Manche Selbsthilfegruppe kann gar nicht entstehen, manche für nur zwei Monate. Aber manche Gruppen gibt es schon seit 30 Jahren. Zu Depression und Sucht etwa gibt es schon lange Gruppen. Ich sorge dafür, dass die Leute sich treffen und austauschen können. Anfragen kommen teils erst anonym, meist aus dem Umkreis, bei speziellen Themen bundesweit.

Irgendwann braucht es erfahrungsgemäß Gruppenregeln – die Corona-Impfnebenwirkungs-Gruppe etwa ist mit 15 Leuten so groß geworden, dass ich Regeln hineingab. Ich bilde auch weiter, etwa zur Stressbewältigung. Im Bereich der Selbsthilfe können wir nicht alles den Ehrenamtlichen überlassen: Es braucht stabilisierende und dauerhafte Strukturen wie das Sozialforum.

Michelle Camila Pérez, Abteilung kultursensible Öffnung bei der Kontaktstelle für Selbsthilfe: In manchen Kulturkreisen ist unsere Vorstellung von Selbsthilfe neu. Auch dort lohnt es sich, die Vorstellung zu vermitteln, dass Selbsthilfegruppen eine gute Möglichkeit zur Förderung körperlichen und sozialen Wohlergehens sind.

Mit unserem Info-Film „Gemeinsam auf dem Weg – Selbsthilfe jenseits kultureller Grenzen“ gehe ich deshalb zu Gruppen, in Institutionen, führe Gespräche. Ende März fand etwa ein Treffen für die Entstehung einer internationalen Frauengruppe bei uns statt, Ende April waren wir mit dem Film bei einem Event im Tübinger Club Voltaire – der Austausch funktioniert also in mehrere Richtungen.

Worin liegt der große Unterschied, den Selbsthilfegruppen machen?

Töpfer: Ganz viele Probleme sind ja schambehaftet. Betroffene fühlen sich erst stigmatisiert und erfahren dann, dass es anderen ähnlich geht: Sie sind nicht alleine.

Herzog: Man geht mit einer ganz anderen Kompetenz zum nächsten Arztbesuch, das sagen viele Klienten. Sie tauschen Erfahrungen, Tipps und Literatur aus und lernen voneinander. Aus den Erzählungen, die sie von anderen hören, hören die Menschen das heraus, woran sie jeweils anschließen können, und das hilft enorm. Manche Betroffene gehen darum später in Kliniken und erzählen aus ihrer Selbsthilfegruppe, machen bei Suchttherapien in Rollenspielen mit und zeigen, dass die Gruppen ihnen helfen.

Was für Gruppen gibt es beispielsweise?

Herzog: Es gibt hier etwa einen Spieletreff, den die Autismus-Gruppe Beruf, Wohnen, Alltagsbewältigung initiiert hat, und ein interkulturelles Frauenfrühstück. Neu sind die Gesprächsgruppe nach narzisstischem Missbrauch, zu Long Covid, es gibt Gesprächsgruppen zur Eltern-Kind-Entfremdung.

Ergaben sich durch die Pandemie neue Bedarfe?

Martin: Die Menschen sind komplett auf sich zurückgeworfen worden. Manche haben die Kontaktbeschränkungen gar nicht gut ertragen. Unsere eigene Netzwerkarbeit wurde durch die Pandemie verlangsamt, der persönliche Austausch fehlte.

Herzog: Die Anfragen stiegen um 80 Prozent, vor allem wegen seelischer Beschwerden und stofflichen Abhängigkeiten wegen der Kontaktbeschränkungen. Es entstanden neue Corona-Gruppen.

Wie erreicht man Sie?

Herzog: Am besten ist, man ruft vorher kurz an oder mailt. Unsere Sprechzeiten stehen auf der Webseite. Wir sind auch auf Facebook zu finden. Birgit Jaschke, die als Redakteurin unsere Zeitschrift verantwortet, hält den Auftritt aktuell.

Fragen von Monica Brana

Das Sozialforum Tübingen e. V. hat seinen Sitz am Europaplatz 3 in Tübingen. Auf der Webseite www.sozialforum-tuebingen.de stehen Kontaktdaten und Angebote wie die hauseigene Zeitschrift „Handeln & Helfen“ bereit.

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